Camino de despedida

Allgemeine Diskussionen zur Pilgerei und ihrer Geschichte
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Frau Holle
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Camino de despedida

Beitrag von Frau Holle »

Vorab:

Dieser Bericht ist lang, nicht schön und nicht lustig. Es geht um Suizid und Trauer. Wer damit gerade nicht gut umgehen kann sollte (heute) eventuell lieber nicht weiterlesen.

——

12. Mai 2023, morgens um 7.40 Uhr:
„Wie machst du es eigentlich, dass du so viel Zeit hast den Weg zu gehen?“

Da ist sie.

Das erste mal ist sie da. Zwar nicht die explizite Frage, warum ich den Weg gehe, aber die Frage, wie ich es organisiert bekommen habe einen ganzen Monat freizubekommen, um den Camino zu gehen. Und in diesem Fall ist die Antwort dieselbe, egal wie man die Frage formuliert.

Bisher hatte ich Glück und niemand hat mich gefragt, warum ich den Weg gehe. Kein Wunder, kommt davor doch immer die Frage, ob es der erste Camino ist. Und nach der Antwort, dass es bereits mein Zehnter ist stellt sich die Frage nach „warum“ wohl niemandem mehr.

Doch jetzt ist sie da, diese Frage. Harmlos gestellt im Sonnenaufgang, während uns der kalte Wind des frühen Morgens um die Wangen weht, begleitet sie uns ein paar Meter. Links und rechts von mir gehen meine Begleiter nichtsahnend weiter, im Gleichschritt, genau so wie vor der Frage.
Und nur ich weiß, dass sich gleich (zumindest aus meiner Sicht) vieles verändern wird.

Ich habe es in den letzten Tagen genossen allein zu trauern und in Gesellschaft noch „inkognito“ zu sein. Eine Pilgerin unter vielen, der man nicht ansieht, dass der leichte Rucksack auf dem Rücken gerade mehr wiegt als der fast aller anderen.
Aber ich wusste auch, dass reden mir hilft.

Also habe ich die Frage beantwortet und aus einem unbeschwerten Start in den Tag wurde ein kummervoller Tränenmarsch. Meine Schleusen öffnen sich noch sehr schnell, das habe ich gemerkt, als ich mich vor zwei Tagen einer Pilgerin, die ich nur für einen Abend sah, öffnete. Ich habe vor lauter weinen kaum erklären können was los ist.

Am 18. April 2023 ist meine Welt zusammengebrochen. Frisch verliebt, noch in den ersten, hormonüberfüllten und perfekt wirkenden Monaten der Beziehung hat mein Partner eine Entscheidung gegen das Leben getroffen. Und mich damit komplett aus meinem Leben gehebelt.

Nach den ersten Tagen der Trauer, der Wut, der Verzweiflung und der Fassungslosigkeit, der Apathie, der Tränen, des Leids, dem Zweifeln und der Hoffnung, dass es dort im Wald einfach einfach eine Verwechslung war wusste ich, dass es für mich nur eine Sache gibt, die mich wieder ins Leben bringen kann: Der Camino.

Die Erkenntnis und die tiefe Gewissheit, dass ich (so schnell) herausgefunden habe, was mir helfen kann bereitet mir heute noch eine wohlige Gänsehaut (ich meine, wie gut ist es bitte, wenn man genau weiß, was einem hilft? Das ist echt ein Privileg!)

Nun hatte ich ein Problem: Ich war gerade einmal drei Wochen im neuen Job und konnte doch nicht einfach zur Chefin stiefeln und um einen freien Monat bitten?

Daniel war Pilger und hatte im März Flüge gebucht, um von Burgos nach Santiago zu pilgern. Ich hatte im Jahr davor auf dem Portugues beschlossen, dass mein nächster Camino wieder der Frances werden soll und hatte lose geplant im Herbst ab Leon zu laufen.

Ich hatte Sorge, als zu meiner Leitung ging und ihr sagte, dass ich zwar weiß was ich brauche, aber nicht weiß, ob wir es umsetzen können.
Ich brauche einen Monat frei, um den Weg zu gehen, den Daniel so gern gehen wollte und den er jetzt nicht mehr gehen kann.
Um das alles zu verarbeiten.
Intensiv und in Vollzeit, ohne den Alltag um mich herum.
Um den Trauerprozess von mehreren Monaten in einen Monat zu stecken.
Um klarzukommen.
Um Abschied zu nehmen.
Um auf dem Camino zu sein.
In Santiago.
In Finisterre.

Den Monat freizubekommen ging dann zum Glück leichter als gedacht. Ich reduzierte meine Arbeitszeit für zwei Monate von 100% auf 50% und arbeitete einen davon gar nicht und einen davon in Vollzeit.

Ich buchte Flüge und fuhr zur Beerdigung.
Nach der Beisetzung verabschiedete ich mich zeitig nach dem Beisammensein und fuhr direkt 6 Stunden zum Flughafen und flog am nächsten Morgen nach Spanien und war somit nur einen Tag nach der Beerdigung in Burgos, um meinen (und seinen) Camino zu gehen.

——

Ich habe immer wieder überlegt, ob ich davon hier erzählen soll oder nicht. Habe überlegt, ob es eine Relevanz hat, ob jemandem helfen könnte. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die nach einem Verlust überlegen, ob der Jakobsweg etwas für sie sein könnte, recherchieren und dann landet hier vielleicht jemand, der sich genau diese Frage stellt: Kann der Camino dabei helfen?
Und dann lohnt es sich auf jeden Fall davon zu berichten, denke und hoffe ich.

Mit auf den Camino habe ich ein Tagebuch und ein Selbsthilfebuch/ einen Ratgeber mitgenommen. Zudem habe ich kurz vor der Beerdigung einen Stein aus dem Garten seiner Schwester mitgenommen. Fürs Cruz de Ferro. Doch der Stein ist dort nie angekommen.
Und ich hatte - jederzeit griffbereit - ein Foto von ihm in der Hüftgurttasche meines Rucksacks. Das zusammen war mein „Trauerwerkzeug“ für den Camino.


Von der Reise und meinem Prozess auf dem Weg erzähle ich in den nächsten Tagen mehr.
Das hier soll für heute reichen.

Denn heute ist Daniels erster Todestag und ich möchte jetzt eine Kerze anzünden und innehalten.

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Pater Norbert
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Pater Norbert »

Danke für den Mut, Birte!

Und da es heute mit dem Todestag ist, zitiere ich den Drachen: "Ich drück dich, wenn du es annehmen willst!"
Wer pilgert, wird von einem Virus infiziert, das nicht vergeht.
Gemerkt im März 2022. Avatar stammt aus Juni 2023.
andrea+wildgans
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Re: Camino de despedida

Beitrag von andrea+wildgans »

Liebe Birte,

einfach danke. Viel mehr ist im Moment nicht zu sagen. Aber hier brennt eine Kerze für Dich und Daniel. Und dem, was Du eventuell noch schreiben magst, werde ich sehr aufmerksam "zuhören".

In Verbundenheit, Andrea
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Tritta
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Tritta »

Liebe Birte,
vielen Dank für dein Offenheit. Ich hätte dich beim Pilgertreffen gerne darauf angesprochen, da war aber wohl nicht der richtige Moment.

Ich werde deinen Bericht verfolgen und hoffe das Berichten hilft auch dir beim weiteren Verarbeiten deines schlimmen Verlustes.
Werde für Daniel heute auch eine Kerze entzünden.
🕯
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Simsim
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Simsim »

Danke Birte! ....Ja, das ist sehr, sehr traurig und geht mir unter die Haut....

Der Camino ist wirklich eine sehr gute Adresse für solche Erschütterungen! Du hast so recht, wenn Du sagst, dass es doch schonmal unglaublich gut war, genau zu wissen, was Du brauchst!
Ich muss an Jesus denken, der ja von sich sagt "yo soy el Camino" und:
"Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid...."

Auch ich werde aufmerksam mitlesen, was Du uns weiter dazu schreibst.

Liebe Grüße,

Simone
Matten
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Matten »

Hola enlutada
Das ist ein mutiger und guter Beitrag.
Vielen Dank, dass Du ihn mit uns geteilt hast.
Martin
Niemand weiß was in ihm steckt, bevor er nicht versucht hat es herauszuholen.
Ernest Hemingway
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Klopfer66
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Klopfer66 »

Liebe Birte,
vielen Dank für Deine offenen Worte, auch ich habe Gänsehaut und das ist alles sehr traurig.
Sehr mutig von Dir, diesen Schritt zu gehen, dafür brauchts viel Kraft.
Ich denke aber, dass es Dir auch weiterhilft, in Deiner Trauer.
Ich werde auch mitlesen.
Danke für das Vertauen, wass Du uns Pilger hier gibst und soviel von Dir persönlich preisgibst.

Und das mit dem Camino, dafür brauchts hier keine Worte 🧡, wir verstehen es alle und sind dankbar, ihn auch gehen zu können,
jeder mit seinem ganz individuellen Päckchen. 🧡 buen Camino

Sei virtuell gedrückt.

LG Claudia
der eigentliche Pilgerweg liegt im Alltag des Lebens
Transalper
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Transalper »

Liebe Birte,
vielen Dank für Deine offenen Worte, bin ganz tief berührt.
Sei umarmt.
Liebe Grüße
Beate Luise
Anne136
Beiträge: 75
Registriert: 27. Feb 2022, 16:17

Re: Camino de despedida

Beitrag von Anne136 »

Danke, dass du uns an deiner Geschichte hast teilnehmen lassen.
Ich hoffe, dass dir der Camino geben konnte, was du gebraucht hast.
Ein lieber Pilgerfreund hat sich aus dem gleichen Grund auf den Weg gemacht.
Alles Gute!
Anne
Ina
Beiträge: 11
Registriert: 18. Apr 2024, 16:37

Re: Camino de despedida

Beitrag von Ina »

Liebe Birte,
Als Trauerbegleitung möchte ich Dir sagen

❤️ TRAUER IST LIEBE ❤️

Halte deinen Daniel fest in deinem ❤️
Gib ihm den schönsten Platz dort ❤️
Und besuche ihn dort so oft es geht ❤️
Und so oft wie es für Dich notwendig ist ❤️
Damit Du irgendwann sagen kannst ❤️
Mein Leben geht jetzt alleine weiter ❤️
Aber Du bleibst in meinem Herzen ❤️

Ich wünsche Dir für alle zukünftigen Wege
Von ganzem Herzen ❤️
ULTREIA CAMINO
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Shabanna
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Shabanna »

Liebe Frau Holle, danke für deinen Bericht.

Auch ich bin den Camino in großer Trauer gelaufen und es war ein Camino, über den ich gar nicht viel schreiben könnte, weil mir sehr wenig davon in Erinnerung geblieben ist. Ich war so versunken in der Traurigkeit, dass vieles fast mechanisch ablief und ich manche Stunden/Tage wie durch einen Nebel wahrnahm. Manchmal wusste ich auf einer Etappe gar nicht mehr, wie ich von A nach B gekommen war.

Natürlich ist jeder anders. Aber wenn jemand zum ersten Mal pilgert, würde ich nicht empfehlen, in großer Trauer loszugehen. Der Camino macht so viel Freude, wenn man Geben und Nehmen kann - ich hatte den Eindruck, dass ich immer nur nahm, mehr ging einfach nicht. Was für ein Erlebnis der Camino ist, wenn man im Stande ist, offen auf die anderen Pilger zuzugehen und über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Das alles schaffte ich einfach nicht.

Der Camino war mein einziger Weg, den ich gehen konnte. Ich hatte keinen anderen. Und er war da. Er wird für mich immer der Weg sein, der bleibt, wenn alle anderen Wege versperrt sind. Und dieses eine Mal wurde er halt "nur gegangen". Irgendwie schleppte ich mich vorwärts. Und er trug mich. Aber er hat so viel mehr zu bieten.

Liebe Frau Holle, manchmal denke ich, dass du für Daniel ausgesucht wurdest, weil du es schaffst, mit diesen Erlebnissen zu leben. Dafür braucht es einen starken Menschen.

Alles Liebe für dich,
Andrea
No creo en casi nada que no salga del corazón.
(Fito Páez)

http://und-die-haare-im-wind.blogspot.com
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Kater
Beiträge: 53
Registriert: 9. Nov 2019, 15:45

Re: Camino de despedida

Beitrag von Kater »

Liebe Birte,

das war ... und ist ... hart für dich.
Danke fürs Teilen deines Kummers. So etwas ist nicht einfach.
Aber, ich hoffe, es wird dir bei der Bewältigung deiner Trauer hoffentlich helfen.
Die Zeit wird dir sicherlich etwas Heilung bringen, aber, wenn man einen Menschen liebt, wird (in meiner Erfahrung) die Trauer des Verlusts jedoch nie ganz schwinden.
Bleibe stark.

Liebe Grüße
Kater
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Monasteria
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Registriert: 11. Dez 2023, 13:26

Re: Camino de despedida

Beitrag von Monasteria »

Unterwegs in Oberdischingen, in der Kirche zum Heiligsten Namen Jesu, habe ich diesen Text gefunden und schicke ihn mit einer Umarmung:


Gott segne deine Augen,
dass du weinen kannst
und nicht in der Kälte deiner Trauer erstarrst.

Gott segne deine Begegnungen,
damit du Menschen findest,
die dir geduldig und verstehend zuhören.

Gott segne deinen Mund,
damit du Worte findest
für deine Trauer und deinen Schmerz.

Gott segne deine Schritte,
dass du einen Weg findest in dein neues Leben.

Gott segne dein Herz,
dass deine Erinnerung wie ein Nest wird,
in dem du dich bergen kannst.

Gott segne dich damit,
dass dein Glaube nicht zerbricht
und deine Hoffnung wächst.
Denn er sieht und hört, tröstet,
befreit unseren Tod zu neuem Leben.

Das gewähre uns der liebende Gott,
der Vater der Sohn und der Heilige Geist.
Amen
Schritt für Schritt
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Frau Holle
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Registriert: 14. Jul 2019, 14:14
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Re: Camino de despedida

Beitrag von Frau Holle »

Danke für eure Antworten.
Ich gehe noch nicht auf alles ein, ich lese es und kann darauf irgendwie noch nicht so viel antworten. Aber eure Worte berühren mich.
Nachdem der erste Teil abgeschickt ist mag der zweite nicht so richtig fertig werden. Er ziert sich. Diese Tage sind gerade nicht so leicht 🤍
u l t r e i a
tsetse
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Registriert: 15. Jul 2019, 10:42
Wohnort: Oberschwaben

Re: Camino de despedida

Beitrag von tsetse »

Liebe Birte, lass Dir die Zeit, die Du brauchst. Das Leben ist Entwicklung, und die einzelnen Schritte brauchen Zeit zum Reifen.

Ich / wir sind mit liebevollen Gedanken bei Dir.



Ich bewundere Deinen Mut zu dieser Offenheit. Er macht mich nachdenklich über mein eigenes Tun. Herzlichen Dank dafür.
There is a crack, a crack in everything
That′s how the light gets in

Leonard Cohen
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