In der Vergangenheit sind mir auf dem Camino de Santiago einige Menschen begegnet, die Probleme mit ihrem Glauben hatten und beim Pilgern Klarheit über ihre Konflikte finden wollten. Man zahlte zwar brav Kirchensteuern, aber aufgehoben und am richtigen Ort fühlten sich diese Zweifler in ihrer Kirche eher nicht. Und obwohl (vermutlich) viele irgendwie zweifeln, wundert es mich doch etwas, wenn heute der Aufschrei über die Missbrauchsgeschichten allgemein groß ist und man deshalb aus der Kirche austritt. Als ob die meisten Konfessionellen wirklich nicht den Schimmer einer Ahnung hätten, um welche Institution es sich bei ihrer Kirche handelt. Als ob nicht seit ewigen Zeiten bekannt wäre, dass der Umgang mit den Schäfchen nicht immer „ganz ohne“ gewesen wäre. Als ob die Pioniere der Aufklärung seinerzeit nicht genau gewusst hätten, wovon sie sich bitte distanzieren wollten.
Wer sich über die Praktiken der Kirchen hätte informieren wollen, hätte es auch gekonnt. Ich vermute, dass jetzt viele die Missbrauchs-Skandale einfach nur zum Anlass nehmen, um sich endgültig aus der Kirche und den Kosten (Kirchensteuer) zu verabschieden.
Ich kann mich darüber weder freuen noch aufregen. Aber nachdenklich macht das Thema ja durchaus. Vielleicht schrumpfen die Kirchen allmählich auf eine stabile Anhängerschaft in ähnlicher Größenordnung wie die Wählerschaften der ehemals großen Volksparteien, also auf vielleicht 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Und vielleicht geraten sie, ob sie wollen oder nicht, künftig in Konkurrenz mit anderen rigiden, beispielsweise islamischen Glaubensgemeinschaften. Ob das eine gute Entwicklung wäre? Keine Ahnung.
Persönlich sehe ich den Einfluss der Kirchen oder anderer Glaubensgemeinschaften auf die Gesellschaftspolitik eher kritisch. Als Frau sowieso (etwa in Fragen der Grundrechte, der Rechte auf den eigenen Körper und der Gleichberechtigung). Aber auch hinsichtlich einer globalen Bevölkerungspolitik. Bei jetzt bereits 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten ist die Haltung der katholischen Kirche zur Geburtenregelung (sprich Verhütungsmaßnahmen und Abtreibungsfragen) meiner Meinung nach einfach nur fürchterlich. Frauen und Familien und überhaupt Gläubigen werden unhaltbare Konflikte aufgebürdet. Für Frauenrechtlerinnen meiner Generation ist die explodierende Demografie in vielen außereuropäischen Ländern unmittelbar mit der Lage von Frauen in patriarchalen Verhältnissen verbunden. Also nicht nur mit den ökonomischen Zuständen, in denen Kinder der Altersversorgung dienen, sondern auch mit religiös bestimmtem Gebärzwang.
Aber dann gibt es – auf der anderen Seite - auch das Institutionelle. Und das ist wichtig. Es ist der sichere Rahmen, das Gemeinschaftliche, die Bedeutung, die diese Institutionen für die Menschen und vor allem die Gläubigen haben. Die Instanz Kirche ist auch eine Art Basis für weitaus mehr Menschen als nur Gläubige.
Dazu Folgendes:
Neulich auf der Buchmesse wurde viel diskutiert über ein erstaunliches Buch von Helmut Lethen, das den Titel trägt: „Der Sommer des Großinquisitors“. Der Untertitel „Über die Faszination des Bösen“ sei irreführend, meinte Lethen, sein Verlag hätte darauf bestanden. Womit er Recht hat, denn hier geht es um eine ideengeschichtliche Spurensuche. Der Grundkonflikt, wie ihn Dostojewski (in: „Die Brüder Karamasow“) in seiner Parabel dargestellt hat, war offenbar sehr bedeutsam für unsere jetzigen sogenannten westlichen Wertevorstellungen. In der Parabel vom „Großinquisitor“ (die der Karamasow-Bruder Iwan seinem jüngeren und gläubigen Bruder Aljoscha erzählt) lässt der Großinquisitor den wiedererschienenen Jesus unmittelbar einkerkern, als der auf dem Platz der frisch verbrannten Häretiker auftaucht. Die Scheiterhaufen qualmten noch und Jesus ging still umher. Nachts sucht der Großinquisitor Jesus in der Zelle auf, um ihm zu erklären, warum er ihn am nächsten Tag auch verbrennen wird. Es ist ein einziger langer Monolog, in dem der Großinquisitor seinen Zwang zum Handeln erklärt, seine Verantwortung für die Gläubigen, seine Pflicht. Alles daran ist stimmig und fast könnte einem der Großinquisitor leid tun.
Für mich war es ein Wiederlesen dieser Parabel, die mich seinerzeit (Abitursthema) ziemlich beschäftigt und ziemlich ratlos gemacht hat. Kurzum: dasjenige, was einem als „böse“ erscheint (nämlich die Kirche), muss nicht automatisch „schlecht“ sein. Ein großes Dilemma. Das muss man als junger Mensch erst einmal verkraften. Geholfen hat uns damals die Einsicht, dass wir die Zeiten der religiösen Dogmen und des Autoritarismus für – hoffentlich immer – hinter uns gelassen haben.
Lethen erzählt, wie diese Parabel jede Menge Leute umgetrieben und auch die politische Philosophie und politisches Handeln mit geprägt hat. Interessant fand ich vor allem, wie Max Weber damit umgegangen ist: Max Weber (Soziologe und Nationalökonom) führte im Winter 1918/19 die heute gängige Unterscheidung zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ ein, die seither der Beschreibung unterschiedlicher moralischer Standards dient. Wer noch die Corona-Diskussionen und die unterschiedlichen Haltungen zu den Lockdowns im Hinterkopf hat, wird sich gut daran erinnern, wie plötzlich Affekte hochkochten. Einerseits Forderungen nach rigiderem Handeln und mehr Verantwortungsbewusstsein, andererseits Anklagen, als verberge sich hinter Gesundheitspolitik der böse Großinquisitor, der einem die Freiheit und das Leben raubt.
Heute scheint mir manchmal, dass das Mittelalter (in den Köpfen) nie wirklich vorbei sein wird – ob mit oder ohne Kirchen. Dass sich die christliche Ethik davon ziemlich emanzipiert hat, macht das Ganze leider aber auch nicht einfacher.
Die Buchmessenveranstaltung mit Helmut Lethen, die ich am 20. Oktober besuchte habe, fand in Frankfurt im „Haus am Dom“ statt. Leider weiß ich von keinem Mitschnitt. Hier aber ein Link zum einem Gespräch im Deutschlandradio:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/le ... n-100.html
chrisbee