Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Hier ist Platz für alle ernsten und nachdenklichen Themen, die nicht direkt mit dem Pilgern zu tun haben.
Fred
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Lieber Matt,
Matt Merchant hat geschrieben: 15. Mär 2022, 09:34 Pilgern ist keine unpolitische, eskapistische Freizeitbeschäftigung:
Pilgern ist als allumfassende Lebenseinstellung seit jeher ein Politikum!
das finde ich eine ziemlich gute und vernünftige Einstellung.

Die Sache mit der Meinungsfreiheit hat jedoch einen Haken, wenn es nämlich um Hassbotschaften geht. Der prorussische Propagandafilm stellt eine ganz klare Hassbotschaft dar. Und Hass ist nicht verhandelbar in einer freiheitlichen Demokratie, sondern manipuliert die Menschen und macht sie böse und barbarisch. Hass gehört in einen diktatorischen Polizeistaat.

Eine so offene Hassbotschaft ist nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt, finde ich.

Die Wahrheit wird euch frei machen
Die Freiburger Universitätsdevise – ein Glaubenswort als Provokation der Wissenschaft
Gerhard Kaiser, aus einem Sonderdruck der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Es ist ein Zitat aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums und stammt von Jesus, der sich später - im vierzehnten Kapitel - selbst als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ bezeichnet.

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Mario
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chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von chrisbee »

Persönlich interessiert mich vor allem, wie man aus dieser Tragödie wieder rauskommt.

Was die Propaganda angeht, da hat sich mir vor allem die „eigene“ Seite eingebrannt: Mitte der 50er Jahre wurde ich in Nordhessen nahe der damaligen „Zonengrenze“ eingeschult, das Gebäude war ein düsterer alter Klinkerbau, ein Seitentrakt des örtlichen Untersuchungsgefängnisses mit langen hohen Fluren. Und da hingen dann diese Plakate an den Wänden. Plakate, auf denen eine große schwarze Hand aus dem Osten nach uns Westlern griff, dann der böse russische Bär, dann dieses schwarz-rot-goldene „Deutschland ist unteilbar“ usw. Für kleine Kinder: Angstmacherei vom Feinsten. Ich erinnere mich auch an spätere Schulausflüge an die Grenzanlagen, wo uns gesagt wurde, dass „drüben“ das Böse auf der Lauer liegt. Die Russen würden uns alle ausspähen. Sie wurden als Untermenschen hingestellt. Außerdem waren da ja auch noch die vielen Flüchtlinge, die sich vor den Russen in Sicherheit gebracht hatten.

Dann durfte ich eines Tages erleben, dass sie einfach weg waren! Aber die alte Angst im Bauch hat mir große Probleme gemacht, als ich Ende 89 erstmals über die Grenze bin. Ich war „drüben“ und erlebte als erstes einen panischen Hungeranfall… Nun ja.

Als dann später akribisch recherchiert wurde, auf welcher Unzahl Atomwaffendepots wir praktisch draufgesessen haben, ist mir nochmals richtig schlecht geworden. Atomdepots auf beiden Seiten des Zaunes, und von beiden Seiten, West wie Ost.

Später konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie im Osten ähnliche Ängste vor dem Westen geschürt wurden. Und aus praktisch denselben Motiven. Der Begriff dafür ist: Kalter Krieg.

Seit einiger Zeit erlebe ich regelrechte Flashbacks. Und noch schlimmer: ich habe jetzt das miese Gefühl, dass die Hardliner von ehedem nach vielen Jahrzehnten doch noch Recht bekommen könnten, dass nämlich der Osten wirklich böse ist.

Allerdings: mir fehlt heute daran der Glaube.

Zumindest weiß ich inzwischen, das ein und derselbe Tatbestand je nach Situation und Interesse ganz unterschiedlich und sogar gegenteilig bewertet werden kann. Was hierzulande empört als fake zurückgewiesen wird, hat vielleicht auf der anderen Seite eine andere Realität. Der eine will nicht hören, was der andere zu sagen hat - und umgekehrt. Es läuft geradezu spiegelbildlich ab.

Wahr ist nur eins: Aktuell ist Russland der Aggressor, der die Grenze überschritten hat. Selbst Russland streitet das nicht ab.

Ich wäre schon froh, wenn man wenigstens zum Kalten Krieg zurückkehren könnte. Ich wünsche mir Abrüstung. Auch emotional.

chrisbee
Fred
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Liebe chrisbee,
chrisbee hat geschrieben: 15. Mär 2022, 20:16 Es läuft geradezu spiegelbildlich ab.
Dazu muss man sagen, dass auf der einen Seite (noch) Demokratien herrschen. Keine perfekten Demokratien, sondern nur so perfekte, wie sie von den Wählern ins Amt gehoben werden. Auf der aktuell anderen Seite steht ein autoritärer Polizeistaat, in dem sich wenige unermesslich bereichern. So etwas nennt man auch Kleptokratie.
chrisbee hat geschrieben: 15. Mär 2022, 20:16 Ich wäre schon froh, wenn man wenigstens zum Kalten Krieg zurückkehren könnte.
Da muss ich dir recht geben. Im kalten Krieg gab es ein Gleichgewicht des Schreckens mit den Atomwaffen. Man dachte, es würde keine konventionellen Kriege mehr geben, weil die atomare Bedrohung so final war.

Aktuell hat sich das umgedreht. Es werden konventionelle Kriege geführt und damit gedroht, wenn jemand dem Opfer eines barbarischen Überfalls zu Hilfe eilen würde, dann würde es zum Atomkrieg kommen.

Die Russen sind nicht böse. Sie leben in einer Diktatur und werden professionell durch Propaganda manipuliert. Es ist wohl eine Bewegung im Gange, dass gut ausgebildete junge Russen ihr Land verlassen. Wir sollten sie wohlwollend aufnehmen. Sie bringen unser Land weiter.

Mario
caminoxyz
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von caminoxyz »

Die Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine und werden und wurden jenseits der Primetimenachrichten aus thematisiert. Das Regiments Asow hat auch eine eigene Wikipediaseite (https://de.wikipedia.org/wiki/Regiment_Asow).
Bei Primetimenachrichten und Lokalzeitungen stimme ich der Einseitigkeit zu, es ist aber kein Problem auch in der Mediathek von ARD und ZDF differenzierte Berichte zu finden.
Beispiel: https://www.funk.net/channel/mrwissen2go-8423
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chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von chrisbee »

Hallo Mario,
ja, die Kriegstaktik hat sich geändert. Der Kreml hat die Schraube einen Tick weiter gedreht.
Aber zurück zum Kalten Krieg: Früher hieß das Feindbild Kommunismus und war für alle westlichen Hardliner das Teufelszeug schlechthin. Heute ist es offenbar der autoritäre Polizeistaat. Feindbilder lassen sich austauschen und neuen Realitäten anpassen - und bleiben trotzdem Feindbilder.
Verstehe mich nicht falsch: Ich habe keinerlei Lust auf russische Realitäten - ich frage mich bloß, wie man aus dieser Eskalation wieder herauskommt. Kommt eigentlich niemand mehr auf die Idee, an irgendeiner Stelle mal eine weiße Fahne zu hissen?

chrisbee
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chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von chrisbee »

Nur der Vollständigkeit halber und weil ich von der Spielbildlichkeit des Kalten Krieges gesprochen habe: hier noch ein link zum ideologischen Nähkästchen der putinfreundlichen Fraktion hierzulande - und wie sie von der taz gesehen wird:

https://taz.de/Querdenker-unterstuetzen ... 7&s=jakob/

Und noch einmal: ich wünsche mir Abrüstung!

chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Hi chrisbee,
chrisbee hat geschrieben: 16. Mär 2022, 20:02 Aber zurück zum Kalten Krieg: Früher hieß das Feindbild Kommunismus und war für alle westlichen Hardliner das Teufelszeug schlechthin. Heute ist es offenbar der autoritäre Polizeistaat. Feindbilder lassen sich austauschen und neuen Realitäten anpassen - und bleiben trotzdem Feindbilder.
chrisbee
Naja, alles Relativieren hat seine Grenzen. Russland ist definitiv ein diktatorischer Polizeistaat geworden. Das ist die objektive Realität und kein subjektives Feindbild.

Mario
Fred
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Der SPIEGEL: Desinformation im Ukrainekrieg
Wie Putins Propaganda in Deutschland wirkt


Der Artikel ist leider hinter einer Bezahlschranke.

Ein kurzes Zitat: "Besonders eifrig geteilt werden russische Verschwörungsmythen über den Ukrainekrieg in der Gruppe der Impfgegnerinnen und Imfgegner. Telegram-Kanäle, die sonst Horrormeldungen über angebliche Impftote verbreiten, bezeichnen nun den russischen Angriffskrieg als westliche Inszenierung."
Quelle: Der SPIEGEL s.o.

Also wenn ich Vladimirowitsch wäre und ich das westlich und damit freiheitlich orientierte Europa destabilisieren möchte, damit ich besser einen barbarischen Angriffskrieg durchführen kann, dann würde ich im Vorfeld dieses Kriegsverbrechens das Vertrauen der Bürger im Westen in den eigenen Staat beschädigen helfen. Horrormeldungen über 5G, Impfgefahren, Erstickungstote durch die FFP2-Maske, Pandemie-Diktatur und ähnlicher Quatsch wäre dazu bestens geeignet. Sollte V. das wirklich nicht selbst bedacht und auch ausgeführt haben?

Mario
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Liebe in Zeiten der Desinformation

Ohne Bezahlschranke...

"Ein Mann hat in der Pandemie seine Frau an die Verschwörungsszene verloren. Was macht das mit der Liebe? [...]
Im Fall von Simon ist es seine Frau, die ihre gemeinsame Wirklichkeit verließ und in die Welt der Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g:in­nen eintrat."
Quelle: taz.de

Mario
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Erniedrigte und Beleidigte.
Vladimir Putins Affektrhetorik


https://geschichtedergegenwart.ch/erniedrigte-und-beleidigte-vladimir-putins-affektrhetorik/

Ohne Bezahlschranke...

Zitat: »Putin versucht das postsowjetische Russland seit Jahren als ein zutiefst gekränktes Land, das vom „Westen“ wiederholt beleidigt und betrogen worden sei, darzustellen. Wie hat Putin mit dieser Affektrhetorik den Krieg vorbereitet?«

Die Website 'geschichte der gegenwart' widmet sich sehr professionell und unabhängig vielen Themen. Zur Zeit natürlich vor allem dem Vernichtungskrieg in der Ukraine. Diese und alle anderen Beiträge kann man abonnieren und ich hoffe nur, dass das auch in Zukunbft gratis bleibt.

Archiv: https://geschichtedergegenwart.ch/archiv/

Mein moralischer Kompass ist noch ziemlich intakt, daher kann ich diese Website empfehlen.

Mario
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Was nicht in dem 'Dokumentarfilm 'Ukrainian Agony' gezeigt wird:

»Aus Sicht von Leonid Pasetschnik [dem nominellen Führer der "Volksrepublik Luhansk" (LNR)] wird es angeblich nicht mehr lange dauern, bis der gesamte Donbass, das Kohle- und Stahlrevier im Osten der Ukraine, ganz zu Russland gehört.

Tatsächlich wird eine solche Entscheidung nicht von Pasetschnik getroffen, sondern von Präsident Wladimir Putin: Wie die benachbarte "Volksrepublik Donezk" (DNR) wurde die LNR 2014 im Osten der Ukraine vom russischen Geheimdienst als Marionettenregime organisiert. Es gab Entführungen und Ermordungen von Gegnern, manipulierte "Referenden" über eine angebliche Unabhängigkeit wurden abgehalten und der Krieg gegen die Ukraine begonnen.«

Zitiert nach der Süddeutschen Zzeitung vom 28.03.22 'Ein neues, bescheideneres Kriegsziel für Russland?'

Wie ein Friedensvertrag aussehen könnte, ist mir völlig schleierhaft. Bis jetzt haben die Russen in der Ukraine allein einen materiellen Schaden von schätzungsweise 1.000 Milliarden Euro angerichtet. Der Angreifer muss normalerweise Reparationen leisten. Jetzt soll Russland aber eine Belohnung bekommen, den Donbass, Mariupol und die Krim? Das gibt doch Ärger über Jahrzehnte.

Mario
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chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von chrisbee »

Hallo Mario,
vielleicht verstehe ich ja etwas: ich sollte wohl - wenn bereits der echte Krieg tobt - nicht mehr vom Kalten Krieg sprechen, weil das dann nicht die richtige Moral ist. Oder?
Gruß chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Ciao Chrisbee,

ich verstehe nicht, was du meinst. Der Krieg in der Ukraine begann schon 2014. Egal, ob man es kalt oder heiß nennt...

Mario
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von Fred »

Acht Milliarden – Der Auslands-Podcast • Putins Desinformationskrieg Oder, wo es Podcasts gibt...
Ein Spiegel-Podcast: Dauer 29:44 • Ein Podcast von Imre Balzer 28.03.2022, 21.25 Uhr

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"Neben der Invasion in der Ukraine führt Russland einen weiteren Krieg: mithilfe von Fake News und Propaganda. Welches Ziel Moskau damit verfolgt und warum Falschinformationen für uns alle gefährlich sind. [...]

"Ziel ist die Destabilisierung der Demokratien

Das Ziel der Desinformation ist nicht zuallererst, dass alle Menschen diese glauben. Es geht dabei auch darum, Verunsicherung und Zweifel bei Menschen zu wecken, sagt Josef Holnburger. Er ist Geschäftsführer von Cemas, dem Center für Monitoring, Analyse und Strategie, das Expertise zu Themen wie Verschwörungs­ideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus bündelt. Holnburger beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich mit Desinformation und Verschwörungsidelogien und vor allem damit, wie sich all das im Internet verbreitet.

»Es geht in der Konsequenz eigentlich um die Destabilisierung von Demokratien«, sagt er. »Deswegen werden da auch Narrative geteilt, die sich widersprechen.«"
Quelle: SPIEGEL s.o.

Genau meine Meinung; und zwar schon seit zwei Jahren, nicht nur seit dem russischen Angriffskrieg. Wie bei den Rosenheim-Cops: Wer hat einen Vorteil daran, also ein Motiv, wenn Leute das Ernst nehmen.

Hab' gerade heute Abend einen Film über das Leben von Umberto Eco angeschaut (Umberto Eco - Mein Leben) und gegen Ende bei ca. 53:00 geht es ihm genau um dieses Problem. Um das Wesen der Lüge und vor allem um das Wesen der Menschen, die solche, oft Hass getränkte Botschaften, glauben...

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Screenshot: arte.tv • Umberto Eco - Mein Leben

Eco ist klug und cool. Vielleicht schreib ich mir einiges seiner Aussage auf... Der Film wurde vor zehn Jahren gedreht. Damals nannte Eco (als in Paris lebender Italiener aus dem Piemont) Mussolini und Berlusconi als Beispiele.

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Screenshot: arte.tv • Umberto Eco - Mein Leben

Mario
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chrisbee
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Re: Dokumentarfilm: Ukrainian Agony

Beitrag von chrisbee »

Hallo Mario,

die Ukrainer tun mir furchtbar leid. Ich war gleich nach Bekanntwerden des Kriegsbeginns seit langem mal wieder auf der Straße, auf der ersten Demo hier in Frankfurt, und da waren wir noch ganz wenige.

Ich habe große Hochachtung vor allen, die sich in der Ukraine verteidigen, aber gleichzeitig habe ich auch Schwierigkeiten, meinen „moralischen Kompass“ wie du auf Kriegslogik zu justieren. Mich wundert es also nicht, wenn mich nicht jeder versteht. Ist ja auch nicht schlimm. Aber ich mag es nicht, deswegen auf einer schiefen Ebene zu landen und von dir zu lesen, ich würde „relativieren.“

Dir mag es egal sein ob der Krieg kalt oder heiß ist oder erst am 24. Februar begonnen hat - mir ist es das nicht. Mein moralischer Maßstab sind Menschenrechte. Und deswegen unterscheide ich zwischen einem kalten Krieger, also Maulhelden, Einpeitscher oder was weiß ich nicht noch alles (die muss man aushalten, siehe Meinungsfreiheit) und jemandem, der in echt mit einer Knarre in der Hand in meinem Wohnzimmer steht und alles kurz und klein schlägt. Du willst die Wahrheit? Sie liegt im Unterschied.

Derzeit machen alle ihre Propaganda. Und ich würde sagen: selbst Präsident Biden, wenn er vom Killer Putin spricht, vom Schlächter, Kriegsverbrecher, dem mörderischen Diktator. Bei dieser Zurichtung fällt, fürchte ich, als erstes der gebotene Anstand unter gewählten Repräsentanten.

Hast du schon mal drüber nachgedacht, welcher Propaganda du vielleicht selbst aufgesessen bist? Auch du wilderst im Meinungsdschungel der Medien und präsentierst aktuelle Feindbilder und martialische Rhetorik, etwa vom „Vernichtungskrieg“. Und du hilfst mit, Putin aufzuplustern, als wäre er der Allmächtige, der nicht nur sein ganzes Volk manipuliert, sondern noch den letzten deutschen Impfgegner infiltriert und zum Staatsfeind umerzogen hat.

Ich weiß wirklich nicht, ob das derzeit alles hilfreich ist. Ich schätze dein Engagement. Aber wie hier im Forum schon jemand bemerkte: schnauf mal durch.

Nur noch ein Gedanke: Hier in Europa sind wir alle in gewisser Weise Nachbarn. Und weil wir das sind, hat dieser Krieg auch eine Vorgeschichte im Kalten Krieg, die ich in Rechnung stellen muss, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Der hier im Forum schon empfohlene Karl Schlögel gab vor einigen Tagen im Interview mit Christ&Welt („An was glaubt Putin“, erschienen auf zeit-online am 26.3.22, leider hinter der Abo-Schranke) zu bedenken, dass es in Russland keine Strukturen gibt, auf die es aber ankommt, falls Putin von den Ereignissen überrollt wird und Russland „im Chaos des Umbruchs eine neue Ordnung finden will.“ Ich zitiere weiter: „An welchen Fronten und Bruchlinien das Imperium auseinanderfällt, ist zum jetzigen Zeitpunkt unabsehbar. Wer wird die Fanatiker im Zaum halten und den Machtübergang auch nur halbwegs human moderieren können? Wir müssen auf alles gefasst sein und sollten zu Gott beten, dass es rettende Kräfte gibt, von denen wir heute noch keine Ahnung haben.“

Für mich ein Grund mehr für mehr Diplomatie.

chrisbee
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