Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Pilgerwege in Frankreich
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Tag 12 | Saint-Pé-d'Ardet nach Montsérié | Vom Regentanz zur Freiheit und als Belohnung gibt's die Lebensfreude | ~ 37 km

Ich wache gegen 5:30 Uhr auf und höre den Regen auf das Dach des Campers prasseln. Da mir BC noch sein "legendäres" irisches Frühstück unter der Prämisse, dass er früh wach sei, zugesichert hat, schaue ich irgendwann aus dem Fenster und sehe bereits Licht in der kleinen Küche. So on, ich genieße also am Frühen Morgen nach langer Zeit ein echtes irisches Frühstück. :mrgreen: Wie das irische Frühstück in etwa aussah und schmeckte, überlasse ich der Vorstellungskraft der Leser.

Wir haben wie schon am Vorabend die Welt aufgeteilt und es ist mir schwergefallen mich zu verabschieden. Engel B. schlief noch, als ich das Haus verlassen habe, doch hoppla, auf einmal öffnete sich oben ein Fenster und Engel B. rief herunter, dass Sie mick nach Saint-Bertrand-de-Comminges fahren würde, da das Wetter so nasskalt sei und der Weg glitschig. Ich lehne dankend ab und BC meint nur lächelnd old school - only walking, no shortcuts. Ich habe die beiden Menschen echt lieb gewonnen. Danke schön. In meinem Tagebuch steht: ... Das Gefühl, ich bin willkommen.

Eine halbe Stunde später gießt es aus allen Wolken und ich stelle mich in einem Dorf namens Genos unter und bereite mir mit dem Wasserkocher einen heißen Kaffee zu. Wird schon wieder aufklaren. Denkste, es hört nicht auf und ich stampfe irgendwann mit meinem bunten kleinen Regenschirm durch dichte Wälder und gehe hoch auf einen Pass in 900 m Höhe in mittlerweile strömenden Regen. Noch mehr machen mir die glitschigen Steine zu schaffen und ich verlaufe mich und bin zeitweise klitschnass im Unterholz und so richtig geile ist das nicht. Da denke ich an Engel B. ein warmes Auto und eine gemütliche Fahrt. Hmm, vielleicht war das doch ein Fehler das Angebot mit der Autofahrt auszuschlagen. Als nun auch Donner anfängt und die Kalksteine immer größer und hinderlicher werden und ich irgendwie nix mehr richtig sehe... ja, da bin ich dann etwas genervt... Ich habe auch keinen Bock mehr mit dem Regenschirm durch das Gestrüpp zu watscheln, sondern gehe jetzt einfach durch ohne Rücksicht auf Verluste. Was soll schon Regen, Zweckoptimus macht sich gemischt mit Wut breit. Früher war ich im Fritz Walter - Wetter recht gut, daran erinnere ich mich noch. Na immerhin, und vielleicht hat's auch oben jemand mitbekommen, überstrapazieren sollte ich Jakobus nicht und doch ist er halt was er ist: Unser Begleiter und Freund -immer.

Es ist echt so: Mitten auf dem Pass im Wald ist eine Schutzhütte - Refuge Saint Martin - Juhuuu, wie geil ist das denn! Die einzige Schutzhütte, die ich auf dem GR 78 gesehen habe, jetzt bei dem *ack-Wetter. Es gibt Wunder definitiv. Ich bin völlig durchnässt und ich habe keinen Poncho, weil die mich mittlerweile nur noch nerven und die Klamotten in der Regel schnell trocknen und so 'n Schirm kann schon viel abhalten.

Das Refuge ist relativ groß, Bänke, ein Kamin (der logischerweise erst beheizt werden müsste), ein Dachgeschoss. In mir kommt der Impuls hoch mich auszuziehen und ich habe richtig Lust auf Musik, ich will tanzen und ich starte meine Camino Playlist und tanze nackt wie ein Derwisch und die Grenzen zwischen irdischer & göttlicher Welt verschwimmen. Ich muss auch ziemlich laut lachen beim Tanzen und ich weiß nicht mehr genau wie lange ich in dieser Hütte rumgezappelt und es war sehr befreiend. Später habe ich mir einen Kaffee gemacht und konnte das Gefühl der Entspannung richtig genießen.

Bild Bild

Mir fällt dazu Karoline von Günderrode ein, sie schrieb unter dem Pseudonym Tian folgendes Gedicht, wenn wundert es das es zu Zeiten der Romantik verfasst wurde:

„In die heitre freie Bläue
In die unbegränzte Weite
Will ich wandeln, will ich wallen
Nichts soll meine Schritte fesseln.

Leichte Bande sind mir Ketten
Und die Heimat wird zum Kerker.
Darum fort und fort ins Weite
Aus dem engen dumpfen Leben.“

Das Wetter klart auf und ich durchquere ein Dorf und freue mich auf die frühromanische Basilika Saint-Just-de-Valcabrère. Da ich gut in der Zeit bin, besichtige ich diese und zahle an einem Eintrittshäuschen und werde von der Dame dort gefragt ob ich auf dem Jakobsweg unterwegs sei. Aha, sie hat in Deutschland gelebt und studiert und spricht supergut unsere Sprache. Die Kirche an sich ist phantastasich - römische Spolien aus dem 4. Jahrhundert sind verbaut. Eine römische Theatermaske und mich interessieren die ausgestellten Jakobussymbole, die bei Grabungen entdeckt wurden (Muscheln ...). Das war wohl die Bischofskirche, bevor im benachbarten Comminges eine neue Bischofskirche errichtet. Siehe die imposante Kirche im Hintergrund.

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Die Kathedrale von Saint-Bertrand-de-Comminges habe ich mir irgendwie anders vorgestellt und obwohl ich diese besichtigte ging mir die Basilika in Valcabrère nicht aus dem Kopf. Erwartung, Erfüllung, Nicht-Erfüllung. Jedenfalls ziemlich viel Kultur & Geschichte für diese Etappe.

Mein Ziel ist noch nicht erreicht, ich habe Montsérié ins Auge gefasst und das sind noch 15-20 km. Gite Mont Pelat und ich werde müder und müder, der Weg zieht sich und ich nehme ein kleine Abkürzung entlang der einer Strasse (an der kaum Autos fahren) und gehe und gehe. Da ich vor der Basilika in Loures-Barousse in einem Supermarkt war, habe ich was zum Beißen im Rucksack und lege mich bei irgendeinem Touridings in der Pampa auf den überdachten Vorplatz, genieße mein Essen und döse eine halbe Stunde rum. Als ich endlich an der Gite ankomme bin ich fix & foxi und froh endlich da zu sein. Ein Pilgerhaus im Nirgendwo, mitten im Feld, gepflegt, mit Küche & allem was benötigt wird. Donativo. Ein frz. Pärchen hat gekocht und ich bekomme Nudeln ab und erfreue mich an der netten Gesellschaft. Geschafft.

Nachtgedanken: Nackt und erschöpft in ner Hütte tanzen ist pure Reinigung, Steven Derwisch kann noch mit der Hüfte wackeln; wie wichtig das Loslassen von Ballast ist; alles kann nix muss; Leben und leben lassen, danke für das Pilgerhaus hier, ich feier die Pilgervereinigungen auf dem Weg.
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Simsim
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Simsim »

:lol: :lol: das wird ja immer besser!!!
Dir wäre ich ja gerne mal über den Weg getanzt :D.
Schade eigentlich, dass Du nicht in Saint Bertrand genächtigt hast,denn da gibt's gleich zwei sehr ungewöhnliche Herbergen...
Aber Du brauchst ja Deine Riesenetappen, keine Ahnung, wie Du das machst. Ich wäre die Strecke in zweieinhalb/drei Tagen gelaufen....
In der Refuge Saint Martin wollte ich mal die Nacht verbringen, aber da tanzten leider massenhaft Ratten und die Quelle vor dem Haus war versiegt, so dass ich weiter laufen musste.
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