Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Pilgerwege in Frankreich
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Simsim
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Simsim »

Oh mann Steven, .....die Beschreibung der Szene in Azille......und überhaupt.....Deine ganze Art zu erzählen.....mir laufen die Tränen das Pilgerherz runter. So wundervoll findest Du Worte für das was man eigentlich kaum beschreiben kann.
Und außerdem lässt Du mich mein geliebtes (und auch in manchen Teilen nerviges) Frankreich nochmal wieder mit frischem Blick sehen. Ja, diese Szenen gibt es noch und wieder auf den Dörfern in manchen Gegenden. Die Seele Frankreichs. So eine in Deutschland ganz unbekannte Lebensart. Leise und subtil. Zwischen den Zeilen, sozusagen. Nicht auf den ersten Blick erkennbar. Aber so voller Leben und Geschichte....
Erzähl bald weiter!! 🤗
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Tag 5 | Malves en Minervois nach Carcassonne | Trotz US-Rantanplan als Glückskind im Regen auf dem Canal du Midi gen Carcassonne unterwegs| ~ 13 km

Regen, Regen, Regen, da spanne ich doch glatt mit Freude meinen kleinen bunten Regenschirm auf und spaziere am Canal du Midi entlang. Vom Weinanbaugebiet Minervois ist nichts zu sehen, stattdessen schön den Treidelpfaden entlang. Mönsch, früher mussten Esel und Pferde die Lastkähne ziehen und heutzutage kann ich da gemütlich im Niesel- und Sprühregen trackern. Ich bin ein Glückskind, definitiv und ich freue mich auf Carcassonne. Ich sehe und bewundere die Kanalplatanen, leider sind diese teils von einer Pilzkrankheit befallen und es werden (zum Glück) neue Bäume angepflanzt.

Von weitem ein erster Blick auf Carcassonne, rund 50.000 Einwohner, Präfektur des Aude und an einer alten Handelsstrasse zwischen Mittelmeer und Atlantik gelegen. Die Cité von Carcassonne, was für eine bombastische Festungsanlage - 51 Türme, im Innern eine Burg und eine Kirche. Weltkulturerbe und eine der meist besuchten touristischen Hauptattraktionen von Frankreich:

Ein erster Blick auf die imposante Festungsanlage aus der Ferne:

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Abermals bin ich auf den Spuren der Katharer, ein der vier Diözesen im südfranzösischen Okzitanien wurde in Carcassonne gegründet. Der Zehnt wurde abgeschafft und so vieles mehr. 1209 jedoch wurden die Katharer von der katholischen Kirche aus Carcassonne vertrieben. Albigenserkreuzzug und Inquisition schwingen die Keule.

Vor der Brücke ist die kleine Kapelle Notre Dame de La Santé. An dieser beginnt der offizielle Jakobsweg GR 78 nach Saint-Jean-Pied-de-Port.
Eher unscheinbar die Kapelle und ebenso der Hinweis mit der Muschel. Wie bei der Via Tolosana in Arles, könnte ich glatt übersehen:

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Mein Ursprungsplan war, dass ich mir kurz Carcassonne ansehe und dann in Arzens (~ 17 km entfernt) übernachte. Allerdings ist jetzt ein starkes Unwetter angekündigt und der Regen wird heftiger. Bei Blitz und Donner möchte ich nicht wirklich weitergehen und so überlege ich mir, dass ich ins Notre Dame de l'Abbaye schaue. Das ist ein ehemaliges Kloster und nun Hotel und bekannt für eine Pilgeraufnahme. Denkste, der Type an der Rezeption war gelinde gesagt im Hypermodus-Megastress und ein Rantanplan der amerikanischen Hotelgäste. Kurzum: Nix frei und nix geht, da alle Zimmer von US-Touristen belegt seien. Zwischenzeitlich hat er noch andere Radpilger abgewiesen mit dem gleichen Hinweis. Ich habe ihn dann mit allem Nachdruck gebeten in Arzens in der dortigen Gite anzurufen und zu fragen ob ich dort ein Zimmer bekomme. Und ich würde später eintreffen, da ich das Gewitter abwarten werde. Siehe da, der Gite-Mitarbeiter in Arzens hat dann ziemlich deutlich gesagt, dass kein Pilger bei diesem Wetter gehen sollte und er doch in Carcassonne mir doch sofort ein Zimmer gebe. So ist das dann auch geschehen mit dem Hinweis ich soll den 5 Amerikanern Bescheid geben im Zimmer, dass ich jetzt mit an Bord sei. Gekommen ist schlussendlich niemand und ich war alleine mit 6 Stockbetten. Ich gehe davon aus, dass die US-Touristen oder irgendwelche Agenturen alles zubuchen und oftmals kommt dann niemand.

So sieht's hier aus:

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Mir fiel auf: Irgendwas an Carcassonne hat mir nicht wirklich gefallen, war es eine zu große Erwartung an die Stadt oder daily emotions, Tagesform?

Nachtgedanken: Ami-Kommerz statt Pilgersegen und ein Betti und Jakobus richtet's wieder mit Pilgersegen + Betti statt Ami-Kommerz. Jakobus provides. Erwartungen und Gefühle. Rantanplan konnte noch nie zwischen Freund und Feind unterscheiden. Die Daltons sind woanders, aber ich bin hier. Eine Tüte Gummibärchen als Absacker.
AndreasMueller
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von AndreasMueller »

Hallo. Ich würde gerne nächstes Jahr ab Montpellier gehen. Macht das Sinn? Gibt es eine Beschilderung?
Danke für die Hilfe
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Hallo Andreas,

zwischen Montpellier und Béziers wird die Strecke derzeit genehmigt (zukünftiger GR78-1), aktuell gibt es nach meiner Information keine wirkliche Beschilderung und die Strecke soll nicht so schön sein (was ich nicht selbst beurteilen kann, sondern nur vom Hören-Sagen...). Ab Montpellier ist dann eben die weiss-rote Markierung des Fernwanderungsweges GR78 die Basis bzw. der Lepere - Wanderführer gibt eine eigene Route vor. Schaue mal beim user "Fermate" über die Suchfunktion nach, der von Montpellier nach Carcassonne gegangen ist. Ich bin ab Beziers gestartet und erste Hinweisschilder GR78 - Voie des Piémont-Pyrénées gab's erst nach Capestang.

Ob das Sinn macht ab Montpellier? - Kannst nur du beurteilen, bei mehr Zeit wäre ich das Teilstück vielleicht gegangen und mit Karten-Map, Lepere-Wanderführer und der rot-weißen Markierung dürfte das sicherlich gut funktionieren.

Alles Gute, Steven
Zuletzt geändert von Steven am 26. Okt 2024, 21:57, insgesamt 1-mal geändert.
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Tag 6 | Carcassonne zum Kloster Prouille |Durch das Schlaraffenland und Färberwaid zu streichelnden Dominikanerinnen | ~ 40 km

Wie sehr ich doch diese großen alten Fenster in den Klöstern mag und wie gerne ich diese nachts zum Einschlafen öffne und meistens zufrieden einschlafen kann. Ich beginne den Tag mit einem ausführlichen Rundgang durch die Festungsanlage und bewundere die romanisch-gotische Basilika St-Nazaire und St-Celse und die vielen kleinen verwunschenen Gässchen mit Bar's & Restaurants. Noch immer leben Menschen in dieser Festungsstadt. Der Ursprung liegt in der gallorömischen Zeit, im Mittealter wurde es zur Festung ausgebaut. Burg, Kirche, ein doppelter Festungsring und ein schöner Ausblick in die Ferne:

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Interessant empfinde ich immer wieder die Wasserspeier an der Außenseite von gotischen Kathedralen. Oft dämonische und fabelhafte Wesen, immer an der Außenfassade, der Einfluss des Teufels auf die irdische Welt, so so:

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Zurück auf Los: Nun bin ich auf dem offiziellen Teil des GR 78 und folge der Aude entlang durch die Lauragais südöstlich von Toulouse gelegen. Das Gebiet hier wird "Pays de Cocagne" genannte, Schlaraffenland. Zwischen 1450 und 1550 war hier ein Hauptanbaugebiet von Pastel - Färberwaid - Indigoblau wurde aus der Pflanze gewonnen und das prägte diese Gegend und hat sie damals unermesslich reich gemacht. Auch ist der Boden sehr fruchtbar, Weizen und Mais bezeugen dies und in der Neuzeit ist Wein hinzugekommen.

Die schwarzen Berge im Hintergrund - Montagne Noire - golden-leuchtender Weizen und jede Menge weite Fernblicke. Es geht bergauf und ich durchquere Villalbe, Lavalette, mache Rast in Alairac:

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Anschließend schaue mir in Arzens meine (Fast-)Herberge und die romanische Kirche Saint-Genes an und bewundere Montréal bereits aus der Ferne:

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Flair, die kreisförmigen alten Dörfer, die um die Kirche herum als Mittelpunkt gebaut sind. Ein Ring, der beschützt, Zusammenhalt symbolisiert. Katharergeschichte, Alairac wurde belagert, in Montreal war 1207 eine große (letzte friedliche) Konferenz zwischen Katharern & Katholiken. Mitten auf Feldern treffe ich die erste Mitpilgerin. Small-Talk, sie ist ebenfalls in Béziers gestartet und geht weiter so lange die Füsse tragen. Ja, das ist eine gute Einstellung.

Ich besuche die Stiftskirche Saint-Vincent, wieder draußen werde ich müde, meine Trackeruhr zeigt 30 km an und ich lege mich auf dem Dorfplatz auf eine Bank. Das waren jetzt doch einige Anstiege und mittlerweile zeigt die Temperatur wieder über 30 Grad Celsius an. Große Freude: ich habe einen Becher "La Belle Aude - Vanilleeis" in meiner Hand und spüre wie der Zucker durch meinen Körper strömt. Ein Pilgertag mit einem großem Becher Vanilleeis ist einfach unschlagbar. Energie für die letzten Meilen in das Dominikanerinnen - Kloster.

Kloster Prouille ist mein Tagesziel, im Lapere empfohlen und kulturell interessiert lese ich mich ein wenig in die Geschichte ein: 1206 erbaut - vom Heiligen Dominikus persönlich, die Wiege des Dominikanerordens. Wieder Katharer, das Kloster diente quasi als geistige Festung gegen die Katharer. Später wurde das Kloster zerstört, im 19. Jahrhundert wieder neu aufgebaut und aktuell leben dort Dominikanerinnen, die uns Pilgern eine Übernachtung anbieten.

Ich gehe durch Felder und Wiesen und komme in Lassere de Prouille an. Einer dieser kleinen alten kreisförmigen Dörfer und ich gehe gefühlt 3 x im Kreis und stosse mit meinen Schienbeinen und Knien heftig an ein großes Stück Fleisch. Erschrocken senke ich den Blick nach unten und sehe einen Pitbull. Verwirrung, der Pitbull guckt, ich gucke, das Herrchen ruft, und der Pittbull trottet ruhig durch eine offenstehende Tür in ein Haus. Durchatmen.

Leider ist von diesem Ort aus das Kloster Prouille nicht ausgeschildert bzw. ich finde nix und meine Karte ist verwirrend. So gehe ich querfeldein über Trailwege und befinde mich irgendwann an einer Schnellstrasse, wieder über grüne Anhöhen bis ich endlich inmitten Verbindungsstrassen und trotzdem versteckt in der Pampa das Kloster entdecke.

Voila:

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Klöster haben für mich immer etwas mystisch-magisches, ein Gefühl von Demut ist in mir als ich die Klosterkirche betrete. Ich sehe Schwestern im Gebet versunken, hohe Decken, die renoviert werden bzw. baufällig sind. Stille. Irgendwann spreche ich eine Schwester an, die mich freudig anlächelt, mir über den verschwitzten Oberarm streichelt und mich an der Hand nimmt und mich zu der Schwester führt, die mich quasi betreut (ich hatte mich telefonisch angemeldet). Ah, sie ist Deutsche und vor über 30 Jahren hierhergekommen. Sie erzählt mir etwas über die Geschichte des Klosters und ich erhalte ein vorzügliches Abendessen mit Brot, Wurst, Hackbraten mit Zwiebeln, selbst angebauten Gemüse, Wasser, Wein. Die Unterkunft ist in einem kleinen Nebengebäude, unscheinbar, spartanisch. Kosten mit Abendessen und Frühstück ~ 25 €.

Nachtgedanken: Meine erste Mitpilgerin, Katharer, Perfecti, schei** Kriege, sanfte Höhen und Täler, sehnen sich Nonnen nach Nähe & Berührung?, Das Schlaraffenland - Pieter Brueghel d. Ä., nö nö, ich bin lieber aktiver, achja: ich mag Pastel.
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Simsim
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Simsim »

Aah, Prouille, genau dort habe ich vor 10 Jahren auch genächtigt und habe mit der deutschen Schwester ausführlich geplaudert. Ich durfte ein paar Tage bleiben und habe als Ausgleich sämtliche Fenster der Hotellerie geputzt.
Die riesige Kirche war damals auch schon Baustelle...da hat sich offenbar nicht viel bewegt seither. Ich fand manche der Schwestern damals bemerkenswert "nahbar" mit Küsschen und Umarmungen. Spannend, dass Du das auch dort so wahrgenommen hast!
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Hallo Simone,

ja, die Schwestern sind sehr sympathisch, herzlich und nahbar und trotzdem überhaupt nicht aufdringlich. Ich empfand die Atmosphäre im Kloster sehr entspannt und angenehm. Soweit ich das nachvollziehen kann, gibt es nicht mehr viele Schwestern im Kloster. Hochachtung und meinen Respekt und Dank für das Engagement uns Pilgern gegenüber.

Die kleinen Momente & Augenblicke sind's, die mich so sehr erfreuen. Ein Blick, eine Berührung, ein kurzes oder auch längeres Gespräch. Meist nicht vorhersehbar, ganz überraschend, vor oder nach einer langen Wanderung. Ich bin Einzelgänger und genieße die einsamen Wege und Pfade auf all den Caminos dieser Welt und damit schließe ich den Waldspaziergang um die Ecke mit ein. Nature. In Gruppen bin ich ganz selten gepilgert, und wenn, dann bin ich nach wenigen Tag meist alleine weitergezogen. Eine Ausnahme ist meine Partnerin, mit der ich gerne und viel wandere.

Nicht die großen bekannten - angeblichen - WOW-Sachen haben mich jemals tief und nachhaltig berührt. So ist die (innere) Erfahrung in Azille für mich zB prägender als die Kathedrale von Santiago (die für mich nur ein Symbol des Ankommens ist) oder irgendein Abschluss, ein sog. Höhepunkt, Applaus etc., immer passieren die tiefen und nachhaltigen Ereignisse auf dem Weg und nicht am Ziel. Selbst wenn ich an der Kathedrale in Santiago weine, so ist das nur die Essenz des Weges. So zumindest mein Empfinden.

Simone, bist Du aktuell auf dem CF unterwegs bzw. welche Gegend durchwanderst und erlebst Du momentan?

Grüße, Steven
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Simsim
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Simsim »

Ja, ich kann alles was Du sagst sehr gut nachempfinden Steven und ja, es sind auch für mich die ganz unerwarteten Geschenke auf dem Weg, die mich am tiefsten berühren.

Die "Essenz des Weges" ist so vielgestaltig und ist doch gleichzeitig, ohne Echo in uns, nur eine abstrakte Idee. Das heißt, dass die Essenz einer Tomate einfach so existiert, aber die Essenz des Camino nur in direkter Beziehung zu uns lebendig ist. Das bedeutet für mich dann auch, dass ich Teil dieser Essenz bin oder sein kann.

Nein, ich bin um diese Jahreszeit nicht auf dem Camino Frances. Ich habe nur kurz vor deren Winterpause die Schwestern in Zabaldika besucht und bin vorher und nachher über den Somport-Pass geklettert. Ich bin zwar auf dem Camino, aber überhaupt nicht geradeaus. Ich besuche einige Leute die ich kenne oder kennenlernen will. Besonders auch Betreiber von Herbergen auf Spendenbasis.
Bin im Moment erstmal wieder zurück in Frankreich, die letzte Woche in den Landes auf dem Chemin de Vezelay und jetzt im Gers auf der Via Podiensis.
angel2969
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von angel2969 »

hallo,
wunderbare Beschreibung, ich fühle mich nach Frankreich zurückversetzt, bin dieses Jahr das erste Mal in Frankreich gepilgert und bestimmt nich zum letzen Mal,
bon chemin angel
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Tag 7 | Kloster Prouille nach Mirepoix | Ariège - eine wilde Liebe, RAF 3. Generation, Feuerwunder und hölzerne Arkaden | ~ 30 km

Was darf ich da am Morgen entdecken: Lavendel & Rosmarin als Deko + Mirabellen zum Frühstück aus dem klostereigenen Garten, hach, wie herrlich von den lieben Schwestern in Prouille:

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Als kleines Dankeschön habe ich meine Lesebrille dagelassen (eigentlich ja unfreiwillig) und behalte das Kloster in bester Erinnerung. 8-)

Ich erreiche Fanjeaux mit dem alten Katharerkreuz am Eingang - abermals bin ich auf den Spuren der Katharer und bin am Ort eines Feuerwunders - der heilige Dominikus schrieb seine Argumente auf Bitten der Katharer hier auf Papier und warf diese in ein Feuer, es verbrannte nicht. Die Thesen der Katharer wurden ebenfalls in das Feuer geworfen, blieben 2 x unversehrt und verbrannten beim 3 x und setzten das Dachgestühl in Brand (...). So die Legende.

Ich sehe mir die gotische Pfarrkirche Notre-Dame an, im Innern der Kirche ist ein angekohlter Balken des Feuerwunders zu sehen und genieße die Ruhe. Eine ganz eigene Ruhe und Stille, die mich immer wieder von Neuem in diesen alten Gemäuern verzückt.

Ich gehe weiter und erreiche Honoux, die Weinberge werden weniger, die Vegetation ist nicht mehr mediterran, Laubbäume tauchen auf, ich spüre den ozeanischen Einfluss des Atlantiks. Apropos: Weiden, viel grün und ich bin auf den letzten Metern im Department Aude unterwegs. Zeit für einen Kaffee - Pilgerluxus - in Montpellier im Decathlon waren die Gaskartuschen ausverkauft, doch seit Carcassonne ist der Gaskocher im Einsatz.

Ich trete nun für die nächsten Etappen in die Welt der Ariège-Pyrénées ein - Voilà! An der Grenze zu Spanien und Andorra gelegen, im Herzen Okzitaniens und die (noch verdeckten) 3000er der Pyrenäen im Hintergrund. Und ich bin erstaunt über die auftauchende Weite, ein Gefühl der Freiheit taucht in mir auf und ich genieße die Aussichten. Keine Menschenseele weit und breit. Verschiedenste Pflanzen auf dem Weg, ich kann diese leider nicht wirklich zuordnen. Na und, denke ich mir, das sind nur von Menschen erfundene Namen für Pflanzen, einfach genießen. Mir kommt E. Tolle und ein Kurs in Wundern in den Sinn. Ah doch, Ginster immer wieder, na klar, und er leuchtet so schön gelb und Schmetterlinge, so viele und Raubvögel greisen über mir. Bastiden, typische Dörfer im Südwesten Frankreichs erscheinen und verschwinden am Horizont:

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Oh, leider ist ein Pyrenäen-Desman (Maulwurf der Pyrenäen) auf dem Jakobus geblieben, R.I.P., mal hoffen, dass mir das nicht passiert. Flora & Fauna, ich kann's leider nicht lassen und schalte mein smartphone "on" für die hiesige Flora- und Fauna-Recherche, ich hab's sonst immer nur im Flugmodus und knipse manchmal Bilder. Also, eine kleine Auslese. Flora: Arnika, Eibisch, echter Thymian, Grasnelken, Enzian, Iris, Binsenlilien, Ginster, Strandflieder; Fauna: Ginster-Katzen, Braunbären (zum Glück nur ganz wenige und keinen gesehen), Desman-Maulwürfe, Lammgeier, Goldener Adler, Zwerg-Adler, Gänsegeier, Luchs, Hirsch, Gams, Hermelin, Auerwild ... Um alles zu sehen müsste ich vermutlich 5 Jahre umherwandern um dann von einem Bären im großen Finale verschlungen zu werden. Nö nö, da nehme ich lieber JETZT mit was kommt und genieße.

Mein heutiges Tagesziel ist die alte Katharerstadt Mirepoix und welch' prachtvolle Altstadt mit ihren zweigeschossigen mittelalterlichen Fachwerkhäusern auf hölzernen Arkaden (couverts) sie doch verziert:

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Ich mag in Mirepoix alles, die Altstadt, die spätgotische Kathedrale Saint Maurice, das Rathaus welches mir die Gite Presbytere empfiehlt, die typische Markthalle im Freien:

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Die Gite ist phantastisch, ein sehr sympathischer Hospitalero begrüßt mich und führt mich durch das Gebäude. Ein freistehendes Einzelbett für mich, tolle Einrichtung & Bilder, auf Anhieb fühle ich mich hier geborgen. Spät am Abend stösst eine mysteriöse Frau hinzu und liegt im Bett schräg gegenüber von mir. Ich sehe einen großen schweren Koffer bei ihr und werde aus ihrem Mix aus weiblichen Vagabund und dem Damenhaften, das sie ausstrahlt, nicht schlau. Wir sprechen kurz auf Englisch, bis sie sich als Deutsche zu erkennen gibt. Allerdings würde sie kein Deutsch mehr sprechen wollen, seit Ewigkeiten, sie ist nun seit 1991 in Frankreich unterwegs und habe seitdem keinen Fuss mehr in D betreten. RAF 3. Generation denke ich mir, irgendwo müssen die ja abgeblieben sein, hier im Südwesten in der Einsamkeit, könnte passen. Die Frau gibt mir allerdings auch etwas, ein Form der Beruhigung, ich bin dankbar, dass sie hier mit mir im Zimmer ist. Ich kann nicht genau sagen, warum. Ausstrahlung, ja, auch das.

Nachtgedanken: Warum isses hier so schön, Geborgenheit, die Ariège mit ihrer Natur durchdringt mich, ich bin in einer ganz bunten Welt, mir geht's echt gut und ich merk's an der Wärme die ich in und außerhalb von mir spüre, ein Schein der erleuchteten Kathedrale gleich nebenan dringt durch das Fenster.
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Simsim
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Simsim »

Wieder so ein wunderbarer Bericht!
Steven, ich finde Du könntest das alles als Buch herausgeben!
Und in Mirepoix, was ich übrigens auch ganz besonders mag, hatte ich weniger Glück mit der Unterkunft. Es ist lange her, damals war gerade ein neuer Pfarrer angekommen, bei dem ich zwecks einer Übernachtung anfragte. Er entschuldigte sich und zeigte mir das damals extrem heruntergekommene Presbytère. Dreckig, baufällig, unbewohnbar. Trotzdem verbrachte ich die Nacht dort irgendwie....aber am Morgen war ich heilfroh, dort wegzukommen.
Das scheint sich ja ganz schön geändert zu haben, falls es das gleiche Gebäude ist. Aber dafür kostet die Übernachtung jetzt auch stolze 25€....damals war es natürlich gratis, wie fast alle Pilgerinterkünfte (oder Spende).
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beliperegrina
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von beliperegrina »

Simsim hat geschrieben: 2. Nov 2024, 20:23 Wieder so ein wunderbarer Bericht!
Steven, ich finde Du könntest das alles als Buch herausgeben!
Dem kann ich mich nur anschließen, lieber Steven. Es ist echt eine Freude, deine Berichte zu lesen.
Du machst ja oft echt lange Etappen.
Falls ich je diesen Weg mal werde gehen können, muss ich sicher anders planen 😉 es aber was soll's. Ich freu mich auf deine Fortsetzungen.
Peregrino Klaus
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Peregrino Klaus »

Lieber Steven,
vielen herzlichen Dank für deine tollen Berichte. Deine Beiträge bestärken mich diesen Weg zu gehen- Ich habe zwar von vielen Seiten gehört, dass es ein wundervoller Weg ist. Aber du hast mich jetzt vollends überzeugt.
Liebe Grüße Klaus et bon courage
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Hi zusammen,

vielen Dank für eure Rückmeldungen - das freut mich sehr, dass euch der Pilgerbericht gefällt.

Die Gite Le Presbytere ist nach meinem Empfinden sehr gepflegt und die Betten sind sehr sauber. Zudem ist die Lage im Herzen der Altstadt unschlagbar. € 25 sind kein Pappenstiel, allerdings ist das eine private Gite und da wird's nicht's vergleichbares in Mirepoix geben für den Preis.

Siehe: https://gites-de-mirepoix-bb.midi-pyren ... ls.com/de/

Gut, dass ich nicht vor 10 Jahren da war. :shock:

Was immer geht ist Zelten in der freien Natur bzw. auf einem Campingplatz.

Schönen Sonntag noch, Steven
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Steven
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Re: Voie des Piémont-Pyrénées - GR78

Beitrag von Steven »

Tag 8 | Mirepoix nach Le Mas-d’Azil | Im Geist des Ultramarathons auf der Suche nach dem Heiligen Gral | ~ 60 km

Sehr früh am Morgen wache ich auf und sehe die Frau gegenüber wie sie einem sehr feinen Kostüm das Zimmer und die Herberge verlässt. Ich spüre noch wie sie mir über den Kopf gestreichelt und mir einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Doch das war ein Traum, oder war das die Realität vor dem Aufwachen. Ich bin verwirrt. Keine (bekannten) Drogen im Spiel. Ich werde bis heute nicht schlau daraus. Ich denke ich habe das mit dem Streicheln geträumt.

Noch vor Morgengrauen gehe ich los und durchstreife die Ariège, Wald- und Wiesenwege, teils querfeldein, Dörfer erscheinen - Teilhet, Vals, die uralte Felsenkirche, fast 1000 Jahre alt. Ich gehe und gehe und bin im Flow. Die Beine bewegen sich ganz automatisch, keine Gedanken, keine Bilder, nur gehen. Versunken im Camino. Versenkt. Und das ist gut so. Stunde um Stunde gehe ich, Zeit spielt keine Rolle, wie an der Schnur gezogen. Keine Ahnung wer da jetzt steuert oder der Steuerer ist. Gegen Mittag bin ich bereits in Pamiers und stehe vor der Kathedrale, die dem heiligen Antonius gewidmet ist. Nebenan ist die Pilgerherberge, Donativo, allerdings mit dem Verweis auf eine neue Unterkunft und einer Telefonnummer.

Ich habe noch Energie, schaue mir das romanische Portal an und gehe in Kathedrale gebaut aus Ziegelsteinen um mich zu besinnen und zu überlegen wie ich weitermache:

Bild Bild

Soll ich noch die Kirche Notre-Dame-du-Camp besichtigen? Ich bin hin- und hergerissen ob ich nun hierbleibe oder weitergehe und beschließe, dass ich mich erstmal im supermarché mit Essen und einer Coke versorge. Ich packe den Rucksack mit Bananen, Riegeln und Quetschies voll. Ja, die Quetschies, immer wieder bei Kindern gesehen und jetzt bin ich selbst der größte Fan davon. Fruits de Nos Régions. :mrgreen:

Ich entscheide mich dafür weiterzugehen, über Montégut-Plantaurel nach Mas-d' Azil, nochmals rund 30 km. Mal sehen ob ich das hinbekomme oder auch mich irgendwann in ein grünes Feld plumpsen lasse und das Zelti gemütlich aufbauen. Grünflächen sind viele vorhanden, die ganzen Strecke bisher und trotzdem hat's mich meist in die eben doch relativ günstigen Unterkünfte verschlagen. Eine heiße Dusche nach einem langen Pilgertag ist herrlich - wer liebt das nicht?!

Château de Montségur liegt rund 40 km entfernt, die höchstgelegene Burg der Katharer, angeblich soll sich dort der heilige Gral befunden haben. Der heilige Gral, hmm, ich komme zu dem Schluss, dass der Heilige Gral in mir sein muss, in jedem Menschen, vielleicht ist er heute sogar in meinen Beinen, wer weiß. Ehemals war Montségur die letzte Zufluchtsstätte der Katharer, 1 Jahr Widerstand gegen die Belagerung der Kreuzritter von Papst und Krone und dann Aufgabe & Feuertod.

Ich mag nicht an den Tod denken, ich mag an Fontane denken:

Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weiße Wölkchen nur,
Es ist so still, dass ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.

Die Landschaft der Ariège passt zu diesem Gedicht, da ist es wieder - das Gefühl der Harmonie und selbst das dunkle Wolkenspiel am Himmel schmückt die Natur:

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In meinem Tagebuch steht: In dieser wunderschönen & entspannten Landschaft fühle ich mich wohl. Ich spüre Harmonie, Weisheit, Atmung und eine Ausgeglichenheit, die meinen Geist wachsam und empänglich machen.

Ich werde abends im Lepere noch lesen, dass ich an einer Kirche und an einem Schloss namens La Hille vorbeigekommen sein sollte. Bin ich das, ich weiß es nicht mehr, ich habe Abkürzungen genommen über Asphaltstrassen, auch diese Abkürzungsoption steht im Lepere. Vorbei der wachsame und empfänglich Geist, er (es!) nervt mich nun & die Beine schmerzen, ich werde müde, mache Rast, es regnet, ich mache mich lang und würde jetzt gerne schlafen. Ist nicht, weiter geht's, meine Freunde und Freundinnen sind zurück und besuchen mich: an einem ruhigen See zerstechen mich die Moskitos, hach, ich liebe sie und sie auch mich und bis aufs Blut. An stehenden Gewässern am Besten im Ganzkörperkondom umherschweifen.

Irgendwann bei Abend bin ich da, Le Mas-d’Azil - hier gibt's berühmte Höhlen, die schaue ich mir morgen an, ich möchte nur noch ein Betti & mich lang machen. Die evangelische (!) Pilgerunterkunft an der reformierten Kirche ist mein Ziel, ich habe mich telefonisch angekündigt.

Wie freue ich mich doch die güldene Muschel zu sehen:

Bild Bild

Ein junger Hospitalero empfängt mich, zeigt mir das Gebäude und später kommt noch eine ältere Dame, die mir einen Stempel gibt und die Küche und die Betten zeigt. Donativo. Flummige Matratzen in einem langezogenen Raum, ein frz. Paar ist ebenfalls da. Wow - zwei Pilger.

Nachtgedanken: Aus dem Körper treten, körperliche Schmerzen führen zur Befreiung, wie war das mit der Extrameile bei Gurdjieff, Identität finden oder verlieren? Ich habe noch Bock auf die Mentos und hole mir heute Nacht 'ne Extrameile Schlaf.
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