Tag 8 | Mirepoix nach Le Mas-d’Azil | Im Geist des Ultramarathons auf der Suche nach dem Heiligen Gral | ~ 60 km
Sehr früh am Morgen wache ich auf und sehe die Frau gegenüber wie sie einem sehr feinen Kostüm das Zimmer und die Herberge verlässt. Ich spüre noch wie sie mir über den Kopf gestreichelt und mir einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Doch das war ein Traum, oder war das die Realität vor dem Aufwachen. Ich bin verwirrt. Keine (bekannten) Drogen im Spiel. Ich werde bis heute nicht schlau daraus. Ich denke ich habe das mit dem Streicheln geträumt.
Noch vor Morgengrauen gehe ich los und durchstreife die Ariège, Wald- und Wiesenwege, teils querfeldein, Dörfer erscheinen - Teilhet, Vals, die uralte Felsenkirche, fast 1000 Jahre alt. Ich gehe und gehe und bin im Flow. Die Beine bewegen sich ganz automatisch, keine Gedanken, keine Bilder, nur gehen. Versunken im Camino. Versenkt. Und das ist gut so. Stunde um Stunde gehe ich, Zeit spielt keine Rolle, wie an der Schnur gezogen. Keine Ahnung wer da jetzt steuert oder der Steuerer ist. Gegen Mittag bin ich bereits in Pamiers und stehe vor der Kathedrale, die dem heiligen Antonius gewidmet ist. Nebenan ist die Pilgerherberge, Donativo, allerdings mit dem Verweis auf eine neue Unterkunft und einer Telefonnummer.
Ich habe noch Energie, schaue mir das romanische Portal an und gehe in Kathedrale gebaut aus Ziegelsteinen um mich zu besinnen und zu überlegen wie ich weitermache:
Soll ich noch die Kirche Notre-Dame-du-Camp besichtigen? Ich bin hin- und hergerissen ob ich nun hierbleibe oder weitergehe und beschließe, dass ich mich erstmal im supermarché mit Essen und einer Coke versorge. Ich packe den Rucksack mit Bananen, Riegeln und Quetschies voll. Ja, die Quetschies, immer wieder bei Kindern gesehen und jetzt bin ich selbst der größte Fan davon. Fruits de Nos Régions.
Ich entscheide mich dafür weiterzugehen, über Montégut-Plantaurel nach Mas-d' Azil, nochmals rund 30 km. Mal sehen ob ich das hinbekomme oder auch mich irgendwann in ein grünes Feld plumpsen lasse und das Zelti gemütlich aufbauen. Grünflächen sind viele vorhanden, die ganzen Strecke bisher und trotzdem hat's mich meist in die eben doch relativ günstigen Unterkünfte verschlagen. Eine heiße Dusche nach einem langen Pilgertag ist herrlich - wer liebt das nicht?!
Château de Montségur liegt rund 40 km entfernt, die höchstgelegene Burg der Katharer, angeblich soll sich dort der heilige Gral befunden haben. Der heilige Gral, hmm, ich komme zu dem Schluss, dass der Heilige Gral in mir sein muss, in jedem Menschen, vielleicht ist er heute sogar in meinen Beinen, wer weiß. Ehemals war Montségur die letzte Zufluchtsstätte der Katharer, 1 Jahr Widerstand gegen die Belagerung der Kreuzritter von Papst und Krone und dann Aufgabe & Feuertod.
Ich mag nicht an den Tod denken, ich mag an Fontane denken:
Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weiße Wölkchen nur,
Es ist so still, dass ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.
Die Landschaft der Ariège passt zu diesem Gedicht, da ist es wieder - das Gefühl der Harmonie und selbst das dunkle Wolkenspiel am Himmel schmückt die Natur:
In meinem Tagebuch steht: In dieser wunderschönen & entspannten Landschaft fühle ich mich wohl. Ich spüre Harmonie, Weisheit, Atmung und eine Ausgeglichenheit, die meinen Geist wachsam und empänglich machen.
Ich werde abends im Lepere noch lesen, dass ich an einer Kirche und an einem Schloss namens La Hille vorbeigekommen sein sollte. Bin ich das, ich weiß es nicht mehr, ich habe Abkürzungen genommen über Asphaltstrassen, auch diese Abkürzungsoption steht im Lepere. Vorbei der wachsame und empfänglich Geist, er (es!) nervt mich nun & die Beine schmerzen, ich werde müde, mache Rast, es regnet, ich mache mich lang und würde jetzt gerne schlafen. Ist nicht, weiter geht's, meine Freunde und Freundinnen sind zurück und besuchen mich: an einem ruhigen See zerstechen mich die Moskitos, hach, ich liebe sie und sie auch mich und bis aufs Blut. An stehenden Gewässern am Besten im Ganzkörperkondom umherschweifen.
Irgendwann bei Abend bin ich da, Le Mas-d’Azil - hier gibt's berühmte Höhlen, die schaue ich mir morgen an, ich möchte nur noch ein Betti & mich lang machen. Die evangelische (!) Pilgerunterkunft an der reformierten Kirche ist mein Ziel, ich habe mich telefonisch angekündigt.
Wie freue ich mich doch die güldene Muschel zu sehen:
Ein junger Hospitalero empfängt mich, zeigt mir das Gebäude und später kommt noch eine ältere Dame, die mir einen Stempel gibt und die Küche und die Betten zeigt. Donativo. Flummige Matratzen in einem langezogenen Raum, ein frz. Paar ist ebenfalls da. Wow - zwei Pilger.
Nachtgedanken: Aus dem Körper treten, körperliche Schmerzen führen zur Befreiung, wie war das mit der Extrameile bei Gurdjieff, Identität finden oder verlieren? Ich habe noch Bock auf die Mentos und hole mir heute Nacht 'ne Extrameile Schlaf.