Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

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MaxB
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Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

Beitrag von MaxB »

Gerade fertig gelesen: Sylvain Tesson – „Auf versunkenen Wegen“.

Der Autor ist in Frankreich bekannt für seine Reiseliteratur. Nach einem Unfall macht er keine Reha, sondern durchwandert Frankreich von den Alpen bis in die Normandie. Dabei nutzt er überwiegend kleine Wege und Pfade und vermeidet engeren Kontakt zu Menschen. Er bewegt sich überwiegend durch Regionen, die laut einem Regierungsbericht „extrem ländliche Strukturen“ aufweisen. Mit seinem Blick beschreibt Eigenheiten der Landschaft, Ihrer Geographie und Natur und die Auswirkungen des Fortschritts. Ein autobiographischer Bericht, unterhaltsam, nachdenklich, sozialkritisch, teilweise schräg, häufige Verknüpfungen zur Literatur, insgesamt flott zu lesen. Geht auch als Pilgerreise durch. ;)

Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Originaltitel: „Sur les chemins noirs“. Albrecht Knaus Verlag, München, 2017.
"Selig die Menschen, die Kraft finden in dir, die Pilgerwege im Herzen haben." (Ps 84,6)
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Simsim
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Re: Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

Beitrag von Simsim »

Interessant! Danke für den Tipp. Das Buch ist in Frankreich schon verfilmt worden (unter dem gleichen Titel) und hat sehr schlechte Kritiken. Als Buch scheint das Werk um Klassen besser zu sein.
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chrisbee
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Re: Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

Beitrag von chrisbee »

Bei Sylvain Tesson habe ich die bislang stärksten Argumente für das Gehen gelesen: weil nämlich die Langsamkeit Dinge enthülle, die sich hinter der Geschwindigkeit verbergen; weil die anhaltende Anstrengung das Gehirn mit natürlichen Opiaten (!) flute; weil das Gehen die Zeit aufhalte oder anders gesagt: dass derjenige, der die Welt mithilfe seiner eigenen Energie vermessen hat, eine andere – gehaltvollere, dichtere – Dimension der Zeit erfährt. Man dehne und strecke sich innerlich, bis die Welt für einen selbst wieder im Lot ist mit den richtigen Raum- und Zeitdimensionen, usw...

Tesson pflegt eine Wertschätzung all dessen, was ist und hat ein Gespür für die Würde des Einzelnen. Zu Reisen bedeutet für ihn persönlich, in sich die nötige Ordnung zu schaffen.

All das findet sich ausformuliert in dem ersten ins Deutsche übersetzten Buch, das mir seinerzeit in die Hände fiel: „Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt.“

Seine Gedanken übers Gehen und den Wanderer lesen sich wie ein Manifest.

Jetzt habe ich auch nochmals dieses poetische Tagebuch über seine Wanderung „Auf versunkenen Wegen“ gelesen und finde es wieder ganz großartig. Es hinterlässt starke, bildhafte Eindrücke.

Was seine Kritik an Globalisierungsfolgen bzw. EU-Maßnahmen bezüglich der ländlichen Räume angeht:

Wenn ich ihn richtig verstehe, dann beklagt und beschreibt er inzwischen immer häufiger kulturelle und zivilisatorische Verluste, weil die Geschwindigkeit des Wandels (etwa der Industrialisierung der Landwirtschaft) zu hoch dreht, um noch Korrekturen und vieles von dem Alten, das sich über Jahrhunderte entwickelt und bewährt hat, zuzulassen und Raum zu geben. Er benutzt dafür den Begriff „Dispositiv“, der sich in etwa als „Zeitgeist“ beschreiben lässt – versteht diesen aber (im Sinne von Foucault bzw. Giorgio Agamben, auf den er im Anhang verweist) als etwas Gewaltförmiges, das über uns verfügt. Tesson geht auf seiner Wanderung durch die abseitigen Korridore der hyper-ländlichen Zonen des Landes als wären es Fluchtrouten, die noch Schutz für einen Rückzug (offline...) bieten würden.

Für mich fühlt sich hier vieles nach Pathos bzw. überdehnter Poetik an, aber ich bin mir nicht sicher, ob hier nicht auch Übersetzungsprobleme eine Rolle spielen. Im Französischen ist die Verwendung poetischer Sprachformen offenbar üblicher als im Deutschen. Und wirkt dann auch anders.

Jedenfalls hat Tesson keine Scheu vor großen Worten und existenziellen Fragen und verlangt sich selbst irre viel ab, und nicht nur körperlich, sondern auch dann, wenn es darum geht, diesen Themen gerecht zu werden und mit seinen Erfahrungen abzugleichen und die richtigen Worte zu finden.

Dass er das Gehen als Reha trotz seiner furchtbaren Sturzverletzungen gewählt hat, (Schädel und Rücken gebrochen) wundert mich nicht. Er sah es als den entscheidenden Weg an, um wieder einigermaßen gesund zu werden.

Den Film darüber werde ich mir nicht ansehen. Mich beeindruckt die Poesie der Sprache und Tessons Fähigkeit, Bildwelten zu schaffen – die von Filmemachern leicht ruiniert und in eine andere Richtung gelenkt werden können. Selbst den super erfolgreichen „Schneeleoparden“ habe ich mir nicht angesehen (obwohl der Film in den großartigen Landschaften Tibets spielt).

Ich möchte hier noch auf das jüngste Buch von Tesson hinweisen: „Notre-Dame de Paris“, das er dieses Jahr anlässlich des Brandes von 2019 veröffentlich hat. Der Haupttext wurde schon einmal im o.g. Buch über die „Unermesslichkeit...“ gedruckt. Er handelt von seiner Zeit als jugendlicher Kathedralenkletterer, als er häufig nächtens mit einer Gruppe Akrobaten auf gotischen Kathedralen in ganz Europa unterwegs war. (Köln hat ihm übrigens 600 Euro Strafe und 1 Jahr Köln-Verbot eingebracht). Was und wie er von den „Feengärten“ dort oben berichtet, ist erstaunlich. Muss man lesen.

Was den Brand/den Verlust betrifft: „...Und wenn der zerstörte Vierungsturm die logische Folge dessen wäre, was wir der Geschichte zumuten?...“

Gruß chrisbee
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Simsim
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Re: Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

Beitrag von Simsim »

Danke Chrisbee, Deine Zeilen machen mir definitiv noch mehr Lust auf die Entdeckung!

Mein Stiefvater war übrigens u.a. Übersetzer französischer Literatur ins Deutsche und würde Deine Vermutung in Sachen scheinbarem Pathos bzw. rauschhafter Benutzung poetischer Rede im literarischen Französisch bestätigen.
Die Übersetzung ist schwierig bis unmöglich, da wir diese Selbstverständlichkeit im Deutschen so nicht haben.
Daher kann es übertrieben wirken.

Ich würde/werde das Buch im Original lesen.
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Steven
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Re: Sylvain Tesson: „Auf versunkenen Wegen“. Eine Wanderung durch Frankreich.

Beitrag von Steven »

Auch von mir ein Danke schön liebe Chrisbee.

die beiden von Dir erwähnten Bücher habe ich gelesen und empfinde diese sehr interessant, da die Gedanken & Erfahrungen von Tesson mich doch ein gutes Stück weiterbringen auf meinem Weg und Denkanstöße liefern. So eindringlich wie er klar ausspricht, dass Flucht und Resignation und hin zur Natur und Einsamkeit seine Rettung und Seelenheil ist - damit kann ich was anfangen. Ziemlich klare Sprache und eine Direktheit die mich dann doch öfters verblüfft hat.

Bevor ich die beiden Bücher gelesen habe und im Kino mir die versunkenen Wege gesehen habe kann ich die Doku Schneeleopard und wunderte mich warum der eine Protagonist physisch ziemlich angeschlagen ausgehen hat. Kurze Zeit später war mir das dann klar.

Viele Grüße, Steven
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