Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Allgemeine Diskussionen zur Pilgerei und ihrer Geschichte
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anyeah
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Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von anyeah »

Hallo ihr Lieben,

ich freue mich über einen Austausch wie Ihr persönlich eure Rückkehr in eure alte Umgebung nach der Pilgertour empfunden habt.

Was waren rückblickend eure Hürden, die ihr meistern durftet/oder noch am meistern seid ?
Wer oder was hat euch geholfen im Alltag wieder zurecht zu finden ?
Gibt es etwas ggf eine Art Unterstützung, die ihr euch im Nachgang hättet gewünscht in dieser Zeit ?

Ich frage, da ich nach meiner 3-wöchigen Wandertour nach Santiago ungefähr 3 Monate lang ziemlich aufgeschmissen war. Ich war mit einem "neuen Ich" konfrontiert, mit neuen Erkenntnissen und neuen Erfahrungen mit der Natur, anderer Menschen und mir selbst. Alles in mir wollte eigentlich wieder zurück und keinesfalls da sein, wo ich zu diesem Zeitpunkt war. Ich war emotional ziemlich unausgeglichen in der Zeit.. Einerseits höchsterfüllt von meiner Entwicklung eines natürlicherem Bewusstseins auf meiner wunderbaren Reise und der Verbindung, die ich dort erleben durfte. Andererseits sehr betrübt über die konträren Erfahrungen, die ich im Alltag wieder erlebte. Alles sehnte sich danach zurückzukehren.

Heute, 2 Jahre später, verstehe ich was mir gefehlt hat und würde mich freuen über einen Austausch, um zu verstehen, ob es auch Anderen so erging oder ergeht in dieser Zeit.

Vielen Dank für euren ehrlichen Austausch.

Buen Camino auf euren Lebensweg :),

Anja
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Camineiro
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Camineiro »

anyeah hat geschrieben: 4. Jan 2024, 18:34 Hallo ihr Lieben,

ich freue mich über einen Austausch wie Ihr persönlich eure Rückkehr in eure alte Umgebung nach der Pilgertour empfunden habt.

Was waren rückblickend eure Hürden, die ihr meistern durftet/oder noch am meistern seid ?
Wer oder was hat euch geholfen im Alltag wieder zurecht zu finden ?
Gibt es etwas ggf eine Art Unterstützung, die ihr euch im Nachgang hättet gewünscht in dieser Zeit ?

Ich frage, da ich nach meiner 3-wöchigen Wandertour nach Santiago ungefähr 3 Monate lang ziemlich aufgeschmissen war. Ich war mit einem "neuen Ich" konfrontiert, mit neuen Erkenntnissen und neuen Erfahrungen mit der Natur, anderer Menschen und mir selbst. Alles in mir wollte eigentlich wieder zurück und keinesfalls da sein, wo ich zu diesem Zeitpunkt war. Ich war emotional ziemlich unausgeglichen in der Zeit.. Einerseits höchsterfüllt von meiner Entwicklung eines natürlicherem Bewusstseins auf meiner wunderbaren Reise und der Verbindung, die ich dort erleben durfte. Andererseits sehr betrübt über die konträren Erfahrungen, die ich im Alltag wieder erlebte. Alles sehnte sich danach zurückzukehren.

Heute, 2 Jahre später, verstehe ich was mir gefehlt hat und würde mich freuen über einen Austausch, um zu verstehen, ob es auch Anderen so erging oder ergeht in dieser Zeit.

Vielen Dank für euren ehrlichen Austausch.

Buen Camino auf euren Lebensweg :),

Anja

Moin Anja,

Herzlich Willkommen im Pilgerforum. :)

Dein "Problem" ist allgemein bekannt und ereilt wahrscheinlich den grössten Teil aller Pilger nach ihrem 1. Camino (und evtl. folgender).

Eine Auffangstation bietet u.a. z.B. dieses Forum, ein regelmässiger Pilgerstammtisch in Deiner Nähe
oder das alljährlich stattfindende Pilgerforumtreffen.

Auch die im Februar in St. Jacobi/Hamburg veranstaltete Pilgermesse bietet die Möglichkeit zum Austausch und Linderung der Beschwerden.

Viel Erfolg bei der "Genesung" ;).

Ultreya
Uwe
Monoeagle
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Registriert: 26. Feb 2020, 00:26

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Monoeagle »

War 128 Tage auf meinem ersten Camino und was soll ich sagen, bis zum Ende des Jahres hatte ich fast 100% der 26kg wieder auf den Rippen. :(
Da ich fleissig Blog(primär für meine Eltern) geschrieben habe und bereits 2 Vorträge (einmal 70min und einmal 180min) gehalten habe ist der Kopf noch immer unterwegs. Die Vorträge helfen ungemein wieder mittendrin zu sein.

Der Alltag hatte mich trotzdem schnell wieder und der Fokus ist nun auf 2025 ausgerichtet.
2024 wird es vielleicht den Portugues geben, das hängt aber von der Gesundheit meines Vaters ab. Ansonsten ist 2023 genügend zuhause liegen geblieben was 2024 auch erledigt werden darf. 2025 werden es dann nur 108 Tage werden um erneut den Kopf zu lüften UND wenn ich bis dahin meine Ernährung nicht im Griff habe wieder Gewicht auf dem Weg zu verteilen. ;) ;) ;)

Wäre Geld und Zeit kein Thema wäre ich wahrscheinlich immernoch unterwegs.
Denke das geht aber vielen so. :)

Buen Camino
2023: Trier -> Vézelay | Limovicensis | GR10 -> Bidarry -> Bayonne | Camino del Norte -> Ribadeo | Camino del Mar | Camino Inglés | Camino Muxia-Fisterra
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Simsim
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Simsim »

Ja....ich bin 9Jahre lang sozusagen immer auf dem Camino geblieben. Entweder als Hospitalera, oder als Pilgerin, oder auch zeitweise angestellt in einer Herberge. Geld hatte ich kaum, aber es ging immer gut. Und jetzt hat sich das auch nur geringfügig geändert :D....
Übrigens habe ich mein Leben nie als "Alltag" erlebt, auch nicht früher, als ich eine Firma hatte und auch nicht später, als ich in einem Großprojekt viel Verantwortung trug. Ich fühlte mich immer auf der Durchreise, immer auf Gott hin orientiert. Von Jugend an. Der Camino war für mich lange Jahre der kohärente Ausdruck meines eigentlichen Lebensgefühls, und daher keine Ausnahmesituation. Ich schreibe das in der Vergangenheitsform....obwohl ich noch nicht wirklich bereit bin bin loszulassen. :D
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Steven
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Steven »

Hi Anja,

bei mir ist der Camino von der Haustüre nach SdC jetzt 16 Monate her. All das Erlebte auf knapp 4 Monaten Camino als Esssenz in meinen Alltag zu integrieren war und ist nicht einfach. Die Zeit auf dem Weg war unbeschreiblich erfüllend und ich durfte entdecken, dass heimkommen mitunter das Schwierigste sein kann. Einerseits ist die Reise zu sich selbst das Wichtigste und dann kommt die Realität und der Alltag zurück mit all den Zwängen & Verpflichtungen.

Hürden? Die Hektik der Großstadt in der ich lebe (jetzt sind wir direkt an den Wald in Stadtnähe gezogen :mrgreen: ) und die Fremdbestimmung mit all den Erwartungen. Selbst wenn diese oft nur in meinem Kopf entstehen, so belasten mich diese und so gerne ich einen Goldesel auf der Weide hätte, der zyklisch meine Golddukaten ausgibt, möchte ich doch im Alltag wieder ankommen und ganz normal mein Geld verdienen. Was ich getan habe bzw. tue. Ich konnte vor allem die Strecken der inneren Einkehr genießen (und ich war sehr sehr gerne ganz alleine unterwegs auf einsamen Pfaden), da ist mein berufliches Leben jetzt ein ziemlicher Kontrast. So habe ich das auch auf dem CF empfunden, ich bin von Aragonien in Pamplona gestartet und habe in 5 min mehr Pilger gesehen als die gesamten 10 Wochen zuvor. Da spürte ich wie sehr die Stille und Abgeschiedenheit einer zB Via Tolosana mich erfüllt hatte.

Was hat mir im Alltag geholfen? Meine Partnerin, lange Spaziergänge in der Natur, der neue Lebensmittelpunkt direkt am Wald, gute Freunde, hier im Forum lesen, Austausch mit Mitpilgern und weitere Reisen, Kurzreisen, viele Wanderungen für 3-5 Tage und vor einem halben Jahr der Camino Portugues mit Partnerin. Manchmal rufe ich mir das Camino Gefühl in Erinnerung, das ist dann sehr präsent und erfüllt mich mit Freude.

Unterstützung die ich mir im Nachgang gewünscht hätte (und die fehlte)? Gute Frage, da bin ich wieder bei den Hürden, viele Menschen konnten die Erlebnisse auf dem Camino nicht nachvollziehen, wie denn auch. Wer nicht selbst gegangen ist, wird sich da logischerweise schwer teuen und ich habe ich bei einigen Gesprächen mit interessierten Freund:innen gemerkt, dass mir die Worte fehlen zu beschreiben wie sich der Camino anfühlt.

By the way: Einerseits wollte ich mich mitteilen und andererseits hatte ich den Wunsch nach Bewahrung der Intimität. Oft hatte ich den Eindruck die Menschen hatten so ein vorgefertigtes Bild, der Steven hat jetzt ein neues Ich oder die großen spirituellen Erlebnisse etc., dabei war die Essenz für mich einfach nur gehen, schauen, sich ganz ungezwungen bewegen, atmen, gehen, einfach des Weges wegen. Über spirituelle Erlebnisse habe ich dann eher weniger erzählt, sondern über die erlebte Freiheit und was das in mir auslöst. Kurzum: Viele Freund:innen fragten einmal nach, kurz hinhören und dann weiter als ob nix gewesen sei. Für mich ist der Camino jedoch bis heute noch präsent. Kein Vorwurf, trotzdem hätte ich mich gefreut, wenn manche Menschen mich in der Hinsicht mehr verstanden hätten das die Integration des Erlebten nicht so einfach erledigt ist. Da ist nix mit Haken dran und erledigt, so wie in einer ToDo - Liste. Ist nich' und möchte ich nicht.

@Simone:

Was meinst du mit loslassen? Deine Vergangenheit bzw. wie würde das aussehen, wenn du wirklich bereit wärest loszulassen. 9 Jahre auf dem Camino sind schon ein starkes Stück (Weg). :)

Bon Camino / Grüße, Steven
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Simsim
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Simsim »

Simone:
Was meinst du mit loslassen? Deine Vergangenheit bzw. wie würde das aussehen, wenn du wirklich bereit wärest loszulassen.
Ich merke einfach, dass ich älter werde und meine Art zu pilgern mich körperlich langsam zu sehr herausfordert. Außerdem spüre ich dass Veränderung ansteht, wenn ich auch noch nicht genau weiß, wie diese aussehen soll.
Dafür müsste ich eben bereit sein vom Camino loszulassen.

Diesen Winter hatte ich zum ersten Mal meine Muschel vergessen, die in all den Jahren mindestens 25 000 km weit an meinem Rucksack hing. Und dann vergaß ich auch noch meine geliebten Wanderstöcke im Auto einer Französin, die damit weiterfuhr, auf Nimmerwiedersehen. Die Stöcke hatten, genau wie die Muschel, alle meine Wege begleitet....tja, wenn das mal keine Zeichen sind :D!
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Gertrudis
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Gertrudis »

Monika Hanna, eine der Mitbegründerinnen des Münchner Jakobswegs, hat ein Buch geschrieben: "Zurück vom Jakobsweg".
Im Vorwort schreibt sie: "Dieses Buch möchte ein 'Lesebuch' sein. Zum einen für Pilger, die mit vollem Herzen und randvoll mit Eindrücken aus Santiago heimkehren und Schwierigkeiten haben, sich im Alltag wieder zurechtzufinden. Ihnen will es Anregungen geben, sich weiter mit dem Jakobsweg auseinander zu setzen...."
Es ist ein Geschichtenbuch, 52 Kapitel mit ganz unterschiedlichen Themen aus dem Bereich des Pilgerns, der spanischen Geschichte und Kunstgeschichte, Erlebnisse aus dem Pilgeralltag usw, ein bunter Strauß von Allerlei. Ob man das Buch jetzt braucht, weiß ich nicht, aber immerhin hat sich Monika der Not der Zurückgekehrten und sich Weg - verloren Fühlenden angenommen.

Simone, Deine Geschichte von der vergessenen Muschel kommt mir so bekannt vor.
Ich hatte eine kleine silberne Muschel um den Hals, die ich bei meiner ersten Ankunft in Santiago gekauft hatte. Auf dieser Pilgerreise damals war ja wirklich etwas geschehen, was mein ganzes Leben verändert und in eine neue Richtung gelenkt hatte, und die kleine Muschel war das Zeichen dafür. Ich trug sie immer, mit ihr traf ich meinen Mann, zog in einen neuen Ort, gebar meine Kinder, trennte mit von meinem Mann... Eines Tages, am Michaelitag 2012, hatte ich sie verloren. Ich war untröstlich. Ich dachte: nun muss ich mich verabschieden von dem Leben der vergangenen 24 Jahre... Tatsächlich hat mir der Verlust einer Sache nie vorher oder nachher so einen unfassbaren Schmerz bereitet. Verrückt.
Und es war tatsächlich so. Kurz darauf habe ich vom Tod meines Mannes erfahren. Und nach und nach kristallisierte sich so viel Neues heraus. Jetzt lebe ich in einer neuen Beziehung, in der alles ganz anders ist...
Eine solche kleine Muschel musste ich natürlich doch mal nachkaufen in Santiago 😅 Aber es ist halt nicht die "echte"...
Das Neue wartet schon, und man muss schon über den ein oder anderen Schatten in sich selber hüpfen, um es annehmen zu können, nicht unbedingt eine ganz einfache Sache. So war's jedenfalls bei mir...
Aber das Pilgern brauchte ich deswegen nicht aufgeben.
(Und ich hab eigentlich die Hoffnung, dass ich Dich doch noch mal auf dem Camino treffe, Simone 😅, denn diesen Sommer ist eine Reise nach Spanien geplant, mit Auto...)
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Simsim
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Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Simsim »

Oh....danke für diese, Deine, sehr persönliche Geschichte, Gertrudis!
Meine geliebte Muschel, die das Geschenk einer Freundin vor meinem allerersten Camino war, habe ich noch. Ich hatte nur vergessen sie mitzunehmen :cry:, sowas!

Ja, über den Schatten springen, etwas wagen....das ist bei mir eben nicht mehr der Camino, der mir so vertraut ist, wie anderen ihr Wohnzimmer, sondern es geht darum, mich auf eine neue Lebensphase einzulassen. Was aber natürlich nicht ausschließt, dass ich weiter manchmal auf einem Camino anzutreffen bin. Im Sommer allerdings ganz sicher nicht 🥵, da war es mir schon immer viel zu heiß :).
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Igor1961
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Registriert: 9. Apr 2022, 10:17

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Igor1961 »

Der Camino hat mein Leben verändert. Ich bin 2016 von Leon nach Santiago gelaufen. Allein in 13 Tagen und im Alter von 55 Jahren. Es waren sehr emotionale Tage und mir wurde von Tag zu Tag bewußter, das mich mein Beruf krank macht. 33 Jahre im Bankvertrieb zu arbeiten hat Spuren hinterlassen. Mit zwei Kindern in Ausbildung und Studium war an eine spontane Veränderung aber nicht zu denken. Ein Jahr später kam dann der Burn-Out mit anschließend 8 Wochen Klinikaufenthalt.

Ich bin seither 5 mal mit meiner Frau auf dem Camino gewesen. Irgendwie habe ich den Job noch 5 Jahre gemacht. Habe an meiner Einstellung zum Job gearbeitet, aber vor etwa 3 Jahren ging dann gar nichts mehr. Ich konnte Gott sei dank ein Jahr später einen Aufhebungsvertrag abschließen und habe auch eine Schwerbehinderung bescheinigt bekommen, so das ich jetzt mit 62 in Vollrente bin. Und so ist der Wunsch, der mich 2016 tagein tagaus beschäftigt hatte, endlich wahr geworden. Nie wieder Versicherungen, Fonds und Zertifikate verkaufen zu müssen.

Der Camino war seither jährlich auf dem Programm, außer zur Corona Zeit. Da ist er zweimal ausgefallen. Jetzt planen wir im Mai mit dem PKW nach Saint Jean Pied de Port zu fahren, um den gesamten Camino Frances in Angriff zu nehmen. Seit meiner ersten Pilgermesse in Santiago, mit Tränen in den Augen angesichts des schwingenden Botafumeiro, war es mein größter Wunsch dieses Abenteuer zu wagen. Jetzt bin ich „Zeitmillionär“ und muß mir keine Gedanken mehr um gebuchte Rückflüge machen.

Auf dem Jakobsweg habe ich zudem meinen Glauben wieder gefunden. Der Atheist, zwar mit katholischer Erziehung, trägt seit einigen Jahren stolz ein silbernes Kreuz um den Hals. Letzte Woche habe ich mir eine fast 130 Jahre alte Bibel gekauft. Meinen Gott nenne ich „schützende Hand“. Diese hat alle meine Jakobswege begleitet. Das Ziel stets vor Augen spürte ich, dass ich stets behütet war. Bin in Spanien, Portugal und Süddeutschland etwa 2.000 km auf Jakobswegen unterwegs gewesen. Ich hatte noch keine einzige Blase am Fuß. Glaubt mir keiner, ist aber so.
2016 Leon-Santiago
2017 Sarria-Santiago
2019 Irun-Santander
2018, 2022 und 2023 Porto-Santiago
Jadis56
Beiträge: 45
Registriert: 8. Aug 2019, 22:39

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Jadis56 »

Nach jedem Camino habe ich wieder angefangen in meiner Wohnung 'zu sortieren' - "Brauche ich das wirklich noch?"
Wenn man gesehen hat, mit wie wenig man glücklich sein kann, kommt einem zu Hause so vieles überflüssig vor. Diese Aktionen habe ich beibehalten, wenn ich nur einen meiner Camino-Filme anschaue, fange ich schon an mich umzuschauen mit dem Gedanken, "Du hast schon wieder zu viel angesammelt..."

Nach jedem Camino hatte ich immer lange eine Gelassenheit, die für mich so ungewöhnlich war, dass meine Kollegen zB manches mal gemeint haben, das solle man für alle Mitarbeiter als Pflicht einführen. :D Und wenn diese Gelassenheit wieder im täglichen Stress unterging, bin ich wieder losgezogen.

Dieser Stolz auf die physische Leistung! Viele Dinge bin ich danach mit anderem Selbstvertrauen angegangen.

Man lernt ja unterwegs immer so viele Menschen und Schicksale kennen und oft habe ich zu Hause dann gedacht, ok lieber Gott, ich hab verstanden, lass mir mein eigenes Päckchen. ;)

Insofern habe ich immer nur Positives mitgenommen. Aber nach nunmehr 17 Jahren auf diversen Jakobswegen habe ich nach meinem Camino 2023 zumindest im Kopf endgültig damit abgeschlossen. Das heißt nicht, dass ich nie wieder nach Santiago (oder besonders Muxia) kommen werde. Aber zumindest werde ich nicht mehr nach einem Camino dort einlaufen. Zum ersten Mal im letzten Jahr habe ich nicht dieses Gefühl des Ankommens gehabt und auch auf dem Camino davor hat es sich bei mir erst eingestellt, als ich in Muxia angekommen bin (wo ich im vergangenen Jahr nicht hin bin). Zum erstenmal habe ich mich mehr auf Zuhause gefreut als wehmütig auf den abgeschlossenen Camino geschaut. Alles hat seine Zeit.

Klar ich bin älter geworden und ja, es wird beschwerlicher. Wo ich früher 30-35km gelaufen bin und anschließend den Ort erkundet habe, tut es heute schon ab 15km weh. Aber es sind auch all die Veränderungen, die man auf dem Camino sieht: der Massenbetrieb; wo früher Naturwege waren, sind heute asphaltierte Pilgerautobahnen, Riesenrucksäcke und gar Koffer über Jacotrans etc. und unterwegs ein Stoffsäckchen dabei mit einem Liter Wasser und einem Apfel, die Gespräche sind in meinen Augen anders geworden - was natürlich auch an mir liegen kann.

Einige Dinge bleiben. Einige Camino Freunde, schöne Erinnerungen. Und Ich gehe grade mal wieder durch die Wohnung und schaue, brauche ich das wirklich alles ... :)
Peregrino Klaus
Beiträge: 105
Registriert: 19. Mai 2021, 13:58

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Peregrino Klaus »

Meinen ersten Camino ging ich 2010 von Saint Jean nach Burgos ,ohne große Vorbereitung ,mit meiner Tochter.Nach diesem Erlebnis merkte ich dass es für meine körperliche und mentale Situation sehr hilfreich war. Ich war vorher lange Zeit, nach der Scheidung, damit beschäftigt meinen stressigen Job und die Aufgabe als allein erziehenden Vater zu erledigen. Nachdem die Kinder auf eigenen Füßen stehen konnten schwor ich mir mal etwas für mich zu tun. Da ich auf materielle Dinge wenig Wert lege, war der Camino genau das Richtige für mich. Seit 2010 ging ich jedes Jahr, außer zu Corona Zeiten.
Auf dem Camino stellte ich fest, dass das alleine Gehen mir die Möglichkeit gab über Dinge nachzudenken und dabei erkannte was wirklich wichtig ist.
Inzwischen meide ich die stark frequentierten Wege. Santiago ist kein Ziel mehr für mich. Erstens bin ich nicht wirklich gläubig, zudem war Jakobus ja eher eine politische Person während der Reconquista. Zweitens ist es mir einfach zu voll und zu touristisch. Ich gehe die verschiedenen Caminos vor Allem um der Freiheit Willen. Man trifft Leute aus der ganzen Welt und hat somit auch einen kulturellen Austausch. Ich habe immer die Freiheit was ich gerade tun möchte. Tagsüber alleine laufen und Abends mit Menschen sich auszutauschen bzw. miteinander zu kochen.
Ich werde, so lange es möglich ist, regelmäßig meine Caminos zu gehen. Und mir ist jetzt schon Angst und Bange wenn ich nicht mehr dazu in der Lage bin.
Anne136
Beiträge: 74
Registriert: 27. Feb 2022, 16:17

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von Anne136 »

2008 lief ich meinen ersten Camino, den Frances - von Pamplona nach Santiago de Compostela.
Ich wusste nicht, warum ich lief - nur dass der Weg mich ganz laut gerufen hat. In O Cebreiro hatte ich meinen Pilgermoment. Dort hätte ich aufhören können, ich war für mich angekommen. Natürlich bin ich dennoch weitergelaufen. Die Ankunft im stärksten Regen war wunderschön und ergreifend. Die Entdeckung der Langsamkeit, die Gemeinschaft bei gleichzeitigem Alleinsein, die Natur, die große Zufriedenheit die einen auf dem Weg durchströmt derweil man mit ganz wenig glücklich ist... Es gäbe viele Dinge die ich schreiben könnte.
Diese Rückkehr in den Alltag war sehr schwer, meine Seele schwebte noch lange in Spanien, irgendwo über dem Weg.
Schon bald waren einige Kollegen genervt, wenn ich von den Erlebnissen erzählte, aber ich bewahrte alle diese Dinge in meinem Herzen.
Ich wohne nur wenige Meter vom Jakobsweg in Münster entfernt, aber natürlich ist das nicht das Gleiche, wenn ich diese Strecke alltäglich auf meinem täglichen Weg zur Arbeit radel, oder dort spaziere. Ich versuche mich an kleinen Dingen zu erfreuen, an den Farben der Natur, über alles positive glücklich zu sein, mit mir zufrieden zu sein - egal was gerade ist. Es ist nicht immer leicht, aber oft reicht ein krähender Hahn in der Frühe, ein kurzer Duft einer blühenden Pflanze und mir kommen meine Erinnerungen hoch.
Ähnlich ging es mit nach der ersten Hälfte der Via Plata (Sevilla - Salamanca) 2010.
Regelmäßig/immer wieder zog es mich auf die verschiedenen Caminos, aber sie wirkten längst nicht so nachhaltig wie die ersten beiden Wege.
Aber jedes Mal durchströmt mich ein großes Glücksgefühl wenn ich unterwegs bin. Ich genieße die Zeit und bin dankbar, nach schweren gesundheitlichen Problemen, dass ich das noch kann oder mich traue - auch wenn ich meine Probleme unterwegs habe.
2012 bin ich der Diagnose Multiple Sklerose davon gelaufen, bin aus Verzweiflung über die Diagnose losgelaufen. Der del Norte war nicht mein Weg, ich habe ihn nach 300km abgebrochen und habe mich der Diagnose gestellt. Auch das war eine Erfahrung. Etwas nicht zu Ende zu bringen kann auch richtig sein: nicht immer läuft alles so, wie man es sich wünscht - aber man muss sich damit auseinandersetzen und seinen Weg ändern. Auch Umwege führen an das Ziel.
Auch die Erkenntnis, dass ich viel mehr kann als ich mir es zutraue ist ein Ding welches ich auf dem Weg gelernt habe. Nach meinem inkompletten Querschnitt und längerer Unklarheit wie sich das Laufen entwickelt, habe ich mich einfach auf den Primitivo, mit einem Rucksack voller Medikamente, etwas schlurfend - und ich habe es wieder geschafft und habe vor Dankbarkeit und Erschöpfung weinend einige Zusammenbrüche gehabt. Aber auch Grenzen erkennen und akzeptieren ist etwas was ich gelernt habe.
Der Weg und die Gesundheit machen demütig und ich bin dankbar für alles.
Ich könnte noch lange weiterschreiben, aber ganz viel von dem was sich erlebt habe findet sich im Kleinen in mir wieder.
Egal was kommt, ich bleibe eine Pilgerseele, ein Pilger im Herzen und wenn mir danach ist und der Weg ruft, versuche ich es wieder.
Nimm alles wie es kommt, erfreue dich an dem was geht und was du hast, sei dankbar und sei offen für Andere.
Lerne im Regen zu tanzen, statt auf Sonnenschein zu warten! So wie wir es auf dem Camino auch leben.
Anne
angel2969
Beiträge: 153
Registriert: 15. Jun 2021, 21:08

Re: Die Rückkehr und Integration des Erlebten - Erfahrungsberichte

Beitrag von angel2969 »

Danke für eure tollen Texte,
überall habe ich teilweisewiedergefunden, wie ich das unterwegs sein erlebe, genieße und davon nachhaltig zehre, ich habe es nur nicht so gut in Worte fassen können. Ihr habt mich mit euren Beiträgen sehr berührt.
bc angel
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