zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Hier darf geschnattert werden. Alles was sonst nirgendwo reinpasst
Benutzeravatar
Via Comitis
Beiträge: 115
Registriert: 26. Jul 2019, 19:20

zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Via Comitis »

Via Comitis hat geschrieben: 19. Feb 2023, 15:00 Gibt's noch solche Regeln bzgl. der (Fuss-)Pilgerschaft nach Jerusalem???
Auf meine Frage gibt's also im Christentum keine Antwort?

Dann ein neuer und letzter Versuch: Früher waren die Pilger nicht aus Freude am Wandern zu Fuss unterwegs, sondern für die meisten gab's keine andere Möglichkeit. Gegenüber der Schiffspassage und dem Reiten hatte das zu Fuss laufen im Prinzip keinen Mehrwert, alle wollten schnellstmöglich und gesund ihr Pilgerziel erreichen.

Heutzutage ist Fusspilgern ein freiwilliger Verzicht auf moderne Transportmittel - der Weg wurde das Ziel.

Ötz hat geschrieben: 19. Feb 2023, 18:05 ... Zumal der Link auch eine absolute Antithese zu deinen Anfangsstatements darstellt. So heisst es in Punkt 5: "Fünftens: Man sollte sich darum bemühen, so viel wie möglich von der Haddsch zu Fuß durchzuführen."
"zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss" bezieht sich nur auf die Anreise zur Erfüllung der fünften Säule des Islams [Hajj].

Die Argumente gegen das Laufen: die Zeit sollte besser genutzt werden und das zu Hause erarbeitete/ersparte Geld u.a. für Almosen zu geben, sich nicht unnötigen Strapazen aussetzen, ... .

Punkt 4 der Fatwa: "Darüber hinaus sollte dies nicht auf Kosten der Vernachlässigung grösserer Prioritäten geschehen, wie z. B. der Erwerb einer rechtmässigen Quelle des Lebensunterhalts um seine Familie zu ernähren, da der Zeitaufwand für die Verwendung solcher Transportmittel (zu Fuss/mit dem Vélo) zu lang ist."


Für Christen gibt's keine Pflicht für eine Pilgerschaft nach Jerusalem, aber für alle Gläubigen ist Jerusalem ein Sehnsuchtsort.

Martin Luther: "Nun geschieht es, dass einer nach Rom wallfahrt, fünfzig, hundert, mehr oder weniger Gulden verzehrt, was ihm niemand befohlen hat, und lässt seine Frau und Kinder oder jedenfalls seinen Nächsten daheim Not leiden. ... und ihm angezeigt werden, das Geld und die Mühe, die zur Wallfahrt gehören, an Gottes Gebot und tausendmal besserem Werk anzulegen, das heisst bei den Seinen oder seinen nächsten Armen. Wenn er es aber aus Neugier tut, Land und Leute zu besehen, mag man ihm seinen Willen lassen."

Die Nächstenliebe ist ein Zentralbegriff des Christentums. Wäre es deshalb nicht sinnvoller (statt 'herumzulaufen') etwas für das Gemeinwohl durch unentgeltliche Mitarbeit zu tun?

Wie lässt sich aus Glaubensgründen die monatelange Fusspilgerschaft nach Jerusalem rechtfertigen?


Gruss

Stefan :-)
Mein Jerusalem-Wegenetz: AL ~ AT ~ BA ~ BG ~ CH ~ CY ~ DE ~ GR ~ HR ~ HU ~ IT ~ ME ~ MK ~ RO ~ RS ~ SK ~ TR ~ VA
Benutzeravatar
Camineiro
Beiträge: 1846
Registriert: 15. Jul 2019, 11:53
Wohnort: südl. Münsterland

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Camineiro »

Wie lässt sich aus Glaubensgründen die monatelange Fusspilgerschaft nach Jerusalem rechtfertigen?
Weil ich es kann ! 😉
Ötz
Beiträge: 96
Registriert: 8. Okt 2022, 23:42
Wohnort: Stuttgart

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Ötz »

@Stefan: Warum veröffentlichst du deine Beiträge eigentlich immer pünktlich zur vollen Stunde? (14:00,15:00,16:00)

Ist mir bei der Lektüre des Beitrags - den ich sonst nicht weiter kommentiere, habe alles gesagt - gerade zufällig aufgefallen.
Benutzeravatar
chrisbee
Beiträge: 213
Registriert: 18. Jul 2019, 22:09
Wohnort: Frankfurt/Main

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von chrisbee »

Interesse an Land & Leuten … kein schlechter Tipp, den Luther da gegeben hat.

chrisbee
Benutzeravatar
chrisbee
Beiträge: 213
Registriert: 18. Jul 2019, 22:09
Wohnort: Frankfurt/Main

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von chrisbee »

... und Gehen ist aus ökologischen Gründen die gebotene Fortbewegungsart - weil: umwelt- und klimafreundlich.

Außerdem – ich zitiere mal Johann Gottfried Seume, der im Winter 1801/2 von Grimma bei Leipzig aus nach Syrakus auf Sizilien aufbrach: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.“

Seume wollte nicht nach Rom, nicht nach Jerusalem, er wollte nach Syrakus. Als ihn in Wien ein fassungsloser Passbeamter fragte, warum er nicht wie alle anderen die Kutsche nehme, war seine launische Antwort: er habe das Bedürfnis, sich das „Zwerchfell auseinander zu wandeln“.

Und noch ein Zitat vom unvermeidlichen Goethe: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen...“

Ich kann mir gut vorstellen, dass dies zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen auch Luther zugesagt hätte. Oder?

chrisbee
Benutzeravatar
Via Comitis
Beiträge: 115
Registriert: 26. Jul 2019, 19:20

zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Via Comitis »

Via Comitis hat geschrieben: 5. Feb 2023, 20:00 ... je länger ich zu Fuss Richtung Jerusalem laufe, desto grösser werden meine Zweifel ob das wirklich richtig (sinnvoll) ist. ...

„Wie lebe ich als Christ“: "Woher weiss ich, was richtig und was falsch ist? Wie kann ich im Zweifel Entscheidungen treffen, die Gott gefallen? Die Bibel erwähnt einiges, was wir nicht tun sollen, aber sie spricht nicht alle Einzelfragen an. In unserem Alltag gibt es häufig Situationen, die uns zweifeln lassen. Woher können wir dann ganz konkret wissen, was richtig ist? Die richtige Entscheidung zu treffen kann manchmal schwierig sein."

Thread-Ende: Danke für alle eure Beiträge


Gruss

Stefan :-)
Mein Jerusalem-Wegenetz: AL ~ AT ~ BA ~ BG ~ CH ~ CY ~ DE ~ GR ~ HR ~ HU ~ IT ~ ME ~ MK ~ RO ~ RS ~ SK ~ TR ~ VA
Monoeagle
Beiträge: 174
Registriert: 26. Feb 2020, 00:26

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Monoeagle »

Simsim hat geschrieben: 13. Feb 2023, 15:21 Interessant. Wäre eigentlich ein eigenes Thema.
Was bewegt Pilger, ihre Erlebnisse für die Öffentlichkeit zu dokumentieren?
Unzählige, großteils sehr langweilige und qualitativ fragwürdige YouTube-Filmchen, worin "jeder" seinen Camino ins Netz stellt, dazu noch tonnenweise Blogs und sonstige Medienauftritte....aber klar, das gilt ja für alle Lebensbereiche...alles wird öffentlich gemacht, jeder (der so agiert) will Aufmerksamkeit über das Internet....aber wozu?
Jedenfalls wozu als Pilger?

Ich glaube ehrlich gesagt sehr wohl, dass das Erleben des Pilgerns geschmälert wird, wenn man ständig mit so einer Halterung rumläuft, in die Kamera spricht....und dabei die realen Menschen ignoriert, die einem am Weg begegnen (hab ich letztes Jahr vermehrt so gesehen, immer wieder auch Leute, die schon beim Aufwachen in ihre Kamera plappern....). Ich finde es auch sehr nervig, wenn jedes gemeinsame Essen xfach fotografiert werden muss und sobald man mal den Mund zum Singen öffnet, wird gefilmt.
Wenn ich dann sage, dass ich nur weitersinge, wenn die Kameras verschwinden, verlieren viele das Interesse, anstatt den Moment einfach nur zu erleben.
Aber wie gesagt, eigentlich ein ganz anderes Thema. Ein für mich allerdings sehr wichtiges, denn ich bin dabei, genau deswegen das Pilgern stark einzuschränken oder ganz aufzugeben, jedenfalls auf den stärker frequentierten Wegen. Mir geht dieses Medienverhalten existentiell auf den Geist. :evil: (koch, brodel, mich in Rage geschrieben hab.. )
Auf der einen Seite ist das denke ich ein Generationending, das wenn man Technikaffin aufgewachsen ist eher zur Technik greift oder schwerer loslassen kann.

Ich schreibe auch einen Blog meines Caminos aus mehreren Gründen:

- der wichtigste Grund, meine Mutter wollte gern digital mitreisen 😅
- ich brauche eine Möglichkeit zum Reflektieren, adhs/asperger sei dank muss ich mir immer meine antrainnierte Ordnung im Kopf erhalten
- ich mache gerne Fotobücher und da ist eine Arbeitsgrundlage immer von Vorteil
- bei der Fülle an Eindrücken in 135 Tagen gehen mir so für mich wichtige Eindrücke nicht verloren

Klar hätte ich den auch gleich zum monetarisieren erstellen können und werbelinks hier und dort einbauen, aber das ist ein blog für mich. Jeder der ihn findet und danach fragt darf ihn sich gerne anschauen muss aber mit meinem niedergeschriebenen klarkommen.

Ich beschränke mich auch fest auf Text und Bild. Hier und dort wird mit dem Gimbal auch etwas in Video festgehalten. Sollte daraus allerdings jemals was Finales entstehen wird sich das zeigen. Kam eher mit um meiner technikseele was zum spielen zu geben.

Es gibt schon echte Perlen auf YT zu unterschiedlichsten Themen, aber ja einfach nur in das schiefe Handy plappern kann nerven. 😁

Zum Thema: Ob pilgern zu Fuß noch zeitgemäß ist?

Muss man sich diese Frage überhaupt stellen?

Jeder lebt doch sein eigenes Leben und somit auch in seiner Zeit. Wenn dann jemand für sich entscheidet sich auf seinen weg "à pied" zu machen kann es doch nur zeitgemäß sein.

Ich bin jetzt fast 3 Wochen auf meinem ersten Camino unterwegs und kann wunderbar den Kopf lüften, auch durch das Niederschreiben meiner Erlebnisse. Die Beine machen ihren Job und man muss sich jeden Tag um die essentiellen Dinge des Lebens kümmern.

Wo schlafe ich?
Was esse ich?
Wann kann ich mal wieder duschen und Wäsche waschen?

Das Reduzieren auf die Notwendigen Dinge empfinde ich als sehr bereichernd.

Ich merke aber trotzdem noch das bei weitem noch nicht bei der Langsamkeit angekommen bin. Gehen hilft auch hier zu entschleunigen, sich der Zeit hinzugeben und die Aneinanderreihung der Momente einfach geschehen lassen.

In dem Sinne, bin dann mal Rucksack packen und in den Tag starten nach Les Riceys.
2023: Trier -> Vézelay | Limovicensis | GR10 -> Bidarry -> Bayonne | Camino del Norte -> Ribadeo | Camino del Mar | Camino Inglés | Camino Muxia-Fisterra
Kick2007
Beiträge: 202
Registriert: 31. Jul 2019, 07:18
Wohnort: in der schönen Eifel

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Kick2007 »

Ola,

wenn ich meine verwackelten Aufnahmen aus früheren Jahren anschaue merke ich, dass es heute schon qualitativ hochwertige Videos über den Camino gibt. Da ich diese eh nicht andern zumute, sind sie doch für mich von Zeit zu Zeit eine tolle Erinnerung.

Es gibt wirklich schöne Videos die ich mir gerne (auch wiederholt) anschaue. Was ich nicht mag, Videos wo sich meist darauf beschränkt wird, sich selbst ins Gesicht zu filmen und zu erzählen und erzählen was rund um einen zu sehen ist. Aber muss man ja nicht anschauen.

Allen weiter viel Freude beim Pilgern sei es mit oder ohne Videos oder Fotografien.

Kick
Was der Frühling nicht sät, kann der Sommer nicht reifen, der Herbst nicht ernten, der Winter nicht genießen.“ (Johann Gottfried Herder)
Benutzeravatar
Via Comitis
Beiträge: 115
Registriert: 26. Jul 2019, 19:20

zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Via Comitis »

Ötz hat geschrieben: 19. Feb 2023, 18:05 ... Was genau willst du der Pilgerwelt sagen? Was ist deine eigene Position, über die man diskutieren oder von der man lernen kann/soll? ...
Monoeagle hat geschrieben: 22. Apr 2023, 08:44 ... Zum Thema: Ob pilgern zu Fuß noch zeitgemäß ist?

Muss man sich diese Frage überhaupt stellen? ...

Ich habe meine Zweifel öffentlich gemacht:
Via Comitis hat geschrieben: 5. Feb 2023, 20:00 ... ABER: bisher war mir nicht bekannt das das Fusspilgern auch als "falsch" betrachtet werden kann und dieser Artikel im 'The Hindu' hat mich zu diesem Thread bewogen.

DENN: je länger ich zu Fuss Richtung Jerusalem laufe, desto grösser werden meine Zweifel ob das wirklich richtig (sinnvoll) ist. ...

... aber es gibt eben im Islam zu der Frage "Fusspilgern" eine Fatwa und diese lässt sich m.M.n. grösstenteils auch auf das Christentum übertragen. ...

Nun gibt es zu der Frage "Fusspilgern" auch für das Christentum eine aktuelle " Stellungnahme ": Reise oder Ziel ? Pilgerfahrt in der westlichen Tradition neu denken.

"Einer der Reize des Camino für moderne Wanderer ist die Überzeugung das sie einen alten Brauch fortsetzen indem sie mit „mittelalterlicher Geschwindigkeit“ reisen „wie es die ursprünglichen Pilger taten“, ein Konzept das vom Europarat und der römisch-katholischen Kirche energisch gefördert wird.

Wie dieser Artikel gezeigt hat war die Art und Weise wie man zu einem Heiligtum reiste für mittelalterliche Pilger oft unerheblich, ... .

Der Artikel stellt auch die damit verbundene Idee in Frage, die insbesondere unter modernen Pilgern auf den wiederbelebten Pilgerwegen Europas vorherrscht, dass „nur eine Reise zu Fuss“ eine „richtige“ Pilgerreise darstellt."


Aufgrund der Argumente könnte sich die Frage ergeben >>> sind die modernen Fusspilgerwege nur eine Erfindung zwecks Geldeinnahmequelle wie damals die Ablassbriefe oder sind sie ein Pia fraus ???

Wobei es mich als Protestant eigentlich nicht richtig tangiert: "Wer nicht an das Fegefeuer glaubt, bekommt auch keinen Ablass ."

Fazit: Obwohl zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss ist laufe ich trotzdem weiter, als gläubiger Christ künftig allerdings ohne eine religiöse Begründung .


Gruss

Stefan :-)


[Das Wort „Fatwa“ kommt aus dem Arabischen und bedeutet „Rechtsgutachten“ bzw. ist die Antwort auf eine religiöse Frage.]
Mein Jerusalem-Wegenetz: AL ~ AT ~ BA ~ BG ~ CH ~ CY ~ DE ~ GR ~ HR ~ HU ~ IT ~ ME ~ MK ~ RO ~ RS ~ SK ~ TR ~ VA
Benutzeravatar
Pilgerbär
Beiträge: 967
Registriert: 18. Sep 2020, 17:04
Wohnort: Rhein-Kreis-Neuss

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von Pilgerbär »

Auch im Mittelalter ist man nicht ausschließlich zu Fuß unterwegs gewesen, was man ja am kurzen Camino ingles ersehen kann. Nur gab es da noch keine Eisenbahn oder Flugzeuge...und aus welchem Grund du einen Pilgerweg gehst ist ja ausschließlich deine Angelegenheit.

An mir verdient die Kirche beim pilgern nichts ob das früher mal anders war weiß ich nicht, trotz fortgeschrittener Jugend war ich damals noch nicht dabei.

Ich für meinen Teil lobbe und preise den Herrn mit jedem Schritt und werde auch zukünftig keine Gelegenheit auslassen geöffnete Kirchen zum Gebet aufzusuchen.

Das ist eben mein Grund und das ist dann eben ausschließlich meine Angelegenheit.

Ein jede/r wie er/sie es für richtig empfindet.
Ultreya, euer Pilgerbär
Benutzeravatar
chrisbee
Beiträge: 213
Registriert: 18. Jul 2019, 22:09
Wohnort: Frankfurt/Main

Re: zu Fuss pilgern nicht zeitgemäss?

Beitrag von chrisbee »

Der Link „Stellungnahme“ führt zu einem interessanten Beitrag aus der Uni Oxford. Die Autorin Anne E. Bailey hat die These, dass das Pilgern zu Fuß ein mehr oder weniger modernes Konzept ist, das eng mit der Wiederbelebung des Camino de Santiago verbunden ist, aber nicht unbedingt auf einer Wiederbelebung historischer religiöser Praktiken und Bräuche beruht. Das hätten die Pilger von heute zwar gern – wegen der Authentizität – aber da täusche man sich doch eher. Anders gesagt: Niemand ging früher gern zu Fuß, wenn er/sie/es dies nicht musste... Das war nämlich, meint die Autorin, etwas für die Armen und die ganz harten Bußpilger. Für die Mehrheit galt, dass es beim Pilgern und auf den Wegen ziemlich „touristisch“ zuging. Vor allem: man wollte möglichst fix an der heiligen Stätte ankommen und nutzte die Verkehrsmittel, die zur Verfügung standen.

Das Konzept „Pilgern zu Fuß“ soll also „eher ein Produkt moderner westlicher Werte und der Kultur nach der Reformation“ sein. „Es scheint viel mit modernen westlichen Gefühlen und Werten zu tun zu haben, wie Gesundheit und Wohlbefinden, langsames Reisen, Ökobewusstsein, die Anziehungskraft des kulturellen Erbes und dem Wunsch nach intensiven, authentischen Erlebnissen“. Außerdem passe es „besonders gut in die protestantische kulturelle Tradition, wo das Konzept der Pilgerfahrt in erster Linie als Reise oder genauer gesagt als spirituelle Lebensreise verstanden wird“.

Was die Autorin hier alles ausführt, hat tatsächlich wenig mit der Angst vor dem Jüngsten Gericht, mit Bußgang und Ablass zu tun. Hinsichtlich der Frage, ob Fußpilgern „zeitgemäß“ ist, müsste man also sagen: es ist allein schon deshalb „zeitgemäß“, weil es nicht irgendwelchen Dogmen und gestrigen Vorgaben folgt, sondern heutigen Bedürfnissen. Was auf die Mehrzahl der Jakobspilger sicher zutrifft.

Es soll also eine Verschiebung stattgefunden haben: weg vom Ziel (dem Heiligtum) und hin zur Besinnung auf dem Weg, also der Reise. Die Autorin liefert auch eine Erklärung: Es sei die Säkularisierung der protestantischen Bedeutung der spirituellen Reise in Gestalt einer „alternativen“ Spiritualität bzw. New-Age-Esoterik. Sie erwähnt hier Paulo Coelho und Shirley MacLaine.

Eine steile These, wie ich finde. Vor allem deshalb, weil ich bislang nie auf die Idee gekommen wäre, dass sich die Esoterik gegen Ende des letzten Jahrtausends aus dem Protestantismus entwickelt haben könnte.
Aber egal. Ganz sicher ist es richtig, dass Multiplikatoren wie Coelho und MacLaine den Camino-Boom maßgeblich zu Wege brachten, indem sie den Weg international populär machten. MacLaine und ihr Interesse an sog. Ley-Linien, die die Energie der Milchstraße widerspiegeln und Kraft geben sollen, ihre früheren Leben, in die sie sich auf dem Camino hineinimaginierte, die Rekurse auf vorchristlichen Keltenheiligtümer und so vieles anderes mehr, an das ich mich gut erinnere, wenn ich an die Gespräche denke, die in den Herbergen geführt wurden – es waren kurz nach der Jahrtausendwende viele US- und Südamerikaner mit der einschlägigen Literatur auf dem Camino unterwegs.

Man könnte glatt meinen: ohne die Hippiebewegung und die Indienfahrer meiner Generation, die auf ihren Wegen die Erleuchtung suchten, hätte sich der Camino de Santiago kaum revitalisieren lassen.

Außerdem gibt es noch das Motto der kleinen gelben Bücher: „Der Weg ist das Ziel“. Laut Wikipedia soll es auf Konfuzius zurückgehen.

Alles interessante Wendungen auf verschlungenen Wegen.

Gruß chrisbee
Antworten