Weite Wege wandern - Christine Thürmer

Christoph Kühn
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Re: Weite Wege wandern - Christine Thürmer

Beitrag von Christoph Kühn »

Camineiro hat geschrieben: 30. Jan 2022, 15:36 @Christoph Kühn: wenn ich Reisebücher lese, werde ich natürlich auf die eine oder andere Art vom Inhalt beeinflusst, auch wenn der Autor grundsätzlich nicht die Absicht hat, dieses zu tun oder mir etwas zu verkaufen.

Bsp.: wenn im Buch als beste Reisezeit der Zeitraum von Mai - September genannt wird, weil in den anderen Monaten Schnee liegt und der Weg vereist ist, dann werde ich tunlichst in den empfohlenen Monaten wandern.

Zack! … Und schon bin ich beeinflusst.
Diese Argumentation erinnert mich an einen Buchkritiker, der die Bücher, die er rezensiert, niemals liest, weil ihn das ja beeinflussen könnte.

Nein, eine gezielt im Influencing eingesetzte Beeinflussung geht anders; sie arbeitet mit einschlägigen Methoden, Mechanismen und Absichten. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von jemandem, der 58.000 Kilometer gegangen ist und aufgrund seiner Erfahrung aufgeschrieben hat, welche Jahreszeit für dieses Vorhaben die beste ist.
"70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind in Europa wieder Städte von der Auslöschung bedroht."

Karl Schlögel, 2015
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chrisbee
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Re: Weite Wege wandern - Christine Thürmer

Beitrag von chrisbee »

Doch doch, es gibt einen Unterschied zwischen dem Beruf eines Reisebuchautors, der selbst die 58 000 Kilometer zu Fuß gegangen ist, über die er /sie erzählt, und dem eines Influencers, der die Produkte ins rechte Licht rückt, die man angeblich für solche unglaublichen Leistungen braucht, und der/die sich dann, wie heute weitgehend üblich, mal kurz in die Wüste für ein Fotoshooting einfliegen lässt. Genauso wie es Unterschiede zwischen Multiplikatoren und Influencern gibt und solche zwischen Non-Profit-Aktivitäten und Kommerz. Es macht auch einen Unterschied, ob man sich sponsern lässt oder nur so tut , als wäre man selbst der King. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Ohne die Aktivitäten der Non-Profit-Aktivisten gäbe es heute noch nicht einmal ein halbwegs vertrauenswürdiges Wikipedia im Netz, sondern nur noch wirtschafts- und interessengeleitete Promotion. Oder nur noch Bezahlmodelle, in denen man für saubere Information extrem viel bezahlen müsste. Die Unterschiede zwischen allem werden nur dann fließend, wenn man keine Unterschiede mehr macht oder keine Kriterien mehr dafür an der Hand hat.

Und gibt es auch Unterschiede zwischen Älteren und Jüngeren dahingehend, dass immer mehr Jüngere, etlichen Untersuchungen zufolge, nicht mehr zwischen Werbung und Information unterscheiden können und alles für bare Münze nehmen, was man ihnen vor allem in den social media auftischt – bzw. alles für fake halten, was ihnen persönlich nicht mehr in den Kram passt. Viele von uns Älteren haben noch ein irgendwie komisches Gefühl von Täuschung, wenn ihnen etwas angedreht werden soll – wie ich finde, völlig zu Recht.

Insofern habe ich vor Christines Haltung durchaus Respekt, wenn sie auf ihre bewusste Entscheidung verweist, sich nicht sponsern zu lassen. Sie lässt sich einfach nicht irre machen. Respekt habe ich auch vor der Vorgeschichte ihres sogenannten Influencertums, nämlich den besagten 58 000 Kilometern, die man ja entgegen allen Widrigkeiten und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit erst mal schaffen muss (und mal abgesehen von den Mühen der Logistik einschließlich der Finanzmittel, die ihr wohl auch nicht in den Schoß gefallen sind). Tja, und dann muss man ja auch noch willens und fähig sein, das alles möglich gut lesbar und ansprechend zwischen die Buchdeckel zu bringen. Auch kein leichtes Geschäft. Anders gesagt: mehr Demut vor einer selbst gestellten Aufgabe geht wohl kaum. Also: es gibt Unterschiede zwischen den Berufen. Und niemandem ist geholfen, wenn man die verwischt.

Auch hinsichtlich der Konsumhaltung nicht, die bald alle pflegen. Ich halte dieses ständige Mehr und mehr haben wollen und sollen, damit die Ökonomie weiter wächst, für wirklich kein zukunftsträchtiges und förderungswürdiges Modell. Aber genau hier haben sich die modernen Influencer angesiedelt. Und schon des deshalb würde ich Christine mit ihren Reduktionsbedürfnissen und ihrer Ablehnung einer konsumistischen Haltung nicht hinzuzählen wollen. Der (hier gepostete) Sachartikel darüber, was ein Influencer ist, war der Artikel eines Ökonomen, der genau im Blick hat, wie sich dieses chronische Mehr immer mehr steigern lässt. Ich wäre da etwas skeptischer.
Und noch etwas: auch wenn man/frau in der Tretmühle stecken und nur wenig Geld haben und keine Perspektive, daran großartig etwas ändern zu können – ich sehe deshalb noch lange keinen Grund, Christine als „Frau Thürmer“ auszugrenzen und in ein recht merkwürdiges Licht zu rücken. Was soll denn falsch sein an ihrem Engagement? Vielleicht ihr Engagement für Frauen?

chrisbee
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Bernie
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Re: Weite Wege wandern - Christine Thürmer

Beitrag von Bernie »

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chrisbee
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Re: Weite Wege wandern - Christine Thürmer

Beitrag von chrisbee »

Nachtrag zum „Influencer“:
Influencer ist keine geschützte Berufsbezeichnung (für die es auch noch keine geregelte Ausbildung gibt), aber mittlerweile ein anerkannter Beruf, der sozialversicherungspflichtig ist (ab Einnahmen von circa 4000 Euro jährlich). Sofern sie freiberuflich arbeiten (und nicht etwa als Selbstständige etwa in Form einer GmbH mit anderen) ist ihre Anlaufstelle die Künstlersozialkasse, eine Behörde des gesetzlichen Sozialversicherungssystems, die Kreativ-Freiberuflern (vom Akrobat bis zum Zeichner) für vergleichsweise geringe Abgaben die Möglichkeit der sozialen Absicherung bietet. Die KSK zählt Influencer zu den publizistisch tätigen Berufsgruppen und zwar im Bereich Marketing, da sie Werbefotos, Werbevideos, Werbetexte oder ähnliches schaffen und veröffentlichen. Als Einnahmen gelten neben allen Geldeinnahmen mit oder durch Unternehmen oder Agenturen auch Sachzuwendungen in Form von Produkten, Reisen usw. Obwohl Freiberufler, genießen Influencer dank der KSK in etwa den Status von regulären Arbeitnehmern, da der Arbeitgeberanteil von denjenigen zu entrichten ist, die die Leistungen der Influencer einkaufen.
Soweit meine Kenntnisse zum Sachstand. Genaueres bei der Künstlersozialkasse selbst.
chrisbee
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