DIE WERTE DES CAMINO DES SANTIAGO. Der christliche Beitrag.

Allgemeine Diskussionen zur Pilgerei und ihrer Geschichte
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calixtinusII
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DIE WERTE DES CAMINO DES SANTIAGO. Der christliche Beitrag.

Beitrag von calixtinusII »

Die einen begreifen ihn als Wanderweg, gar nicht so wenige als Medium zum Kennenlernen anderer, mit allem was dazu gehört, wiederum andere als Pilgerweg. Stichworte: Selbstfindung, Wunsch nach Verbesserung der Lebenswirklichkeit, Gastfreundschaft, Solidarität, Respekt für andere, Empathie, Toleranz, Spiritualität.
Ohne den Apostel Jakobus kein Jakobsweg. Ohne das Grab des Heiligen keine Kathedrale in Santiago de Compostela. Ohne die mittelalterlichen christ-katholischen Pilger kein Jakobsweg. Das sich einzugestehen, sollte selbstverständlich sein, fällt aber vielen schwer. In der Regel führt der moderne Mensch sein Dasein ja maximal auf seine Großeltern zurück.

Anton Pombo hat dazu am 21. Februar 2021 auf der Internetplattform gronze.com eine schöne Abhandlung verfaßt, auf die ich im nachfolgenden eingehe. Schon `mal vorweg, Sex steht für ihn nicht auf der Agenda. Pombo zieht die oben benannten Stichworte hinein in die Frage, was den Camino denn so reizvoll mache, was den Camino-Pilger der Nachkriegszeit so radikal vom Wanderer oder Touristen unterscheide. Sie, die Werte, basierten seiner Meinung nach auf den Prämissen des mittelalterlichen Christentums. Sie seien also immer noch abrufbar, rudimentär gestützt auf Familie, Bildung und dem soziokulturellen Umfeld - trotz Aufklärung und Französischer Revolution und den aus beiden ableitendem Rationalismus, und wie ich hinzufüge Relativismus, Subjektivismus und teils offener Gegnerschaft, wenn nicht Feindschaft der (katholischen) Kirche gegenüber; auf jeden Fall die Säkularisation.

Der christliche Beitrag konzentriere sich – seiner Meinung nach - auf die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, (Nächsten-)Liebe, wie auf die Kardinaltugenden Stärke, Mäßigung, Gerechtigkeit und Klugheit – verzahnt mit dem Mandat der vierzehn Werke der Barmherzigkeit, den sieben geistigen und den sieben leiblichen. Wer kennt sie?
Die sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit
1. Dem Hungrigen zu essen geben,
2. den Durstigen zu trinken geben,
3. die Nackten zu bekleiden,
4. die Fremden aufzunehmen,
5. den Kranken beizustehen,
6. die Gefangenen zu besuchen und
7. die Toten zu begraben.
Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit
1. Dem Rat geben, der ihn braucht;
2. den lehren, der nichts weiß;
3. den korrigieren, der irrt;
4. den Traurigen trösten;
5. die Beleidigungen verzeihen;
6. die unangenehmen Menschen mit Geduld ertragen; und schließlich
7. beten.
Diejenigen Pilger, die die Fernroute des Jakobswegs wählen, zum Beispiel von St. Jean aus, werden sich darüber im klaren sein, dass sie auf dieser heiligen und historischen Route bewußt die Hektik des modernen Lebens abstreifen, das Gehetztsein des Alltags, die Kurzlebigkeit mit ihren Marktgesetzen eintauschen gegen ein Pilgerdasein, das sich ihnen neue Horizonte erschließt, durch Langsamkeit Neues erkennen, vielleicht im Zwiegespräch mit dem Herrn. Dabei werden ihnen Mit-Pilger, Freiwillige der Herbergen und gastfreundliche Anwohner helfen: in dieser geballten Form auf keinem anderen Wanderweg anzutreffen. Neugierige und wißbegierige Pilger saugen Landschaft wie Infrastruktur auf, eine über Jahrhunderte alte sich entwickelnde christ-katholische Infrastruktur. Pombo fragt sich zu Recht, wie es eigentlich angehen könne, dass beispielsweise ein amerikanischer oder ein deutscher Geschäftsmann, zu Hause nur allerbeste Hotels gewohnt, nun plötzlich bescheidene Herbergen und Hostels ansteuert, Gastfreundschaft und brüderliches Zusammenleben sucht; dies alles offensichtlich als wesentlichen Bestandteil des Camino begreift, zu Hause dies niemals auch nur in Erwägung ziehen würde. Alle Pilger sind halt Pilger, unterschiedlich, unabhängig von Geschlecht, Beruf, Einkommen, Status, Herkommen, Hautfarbe. Kurzum, ist das die Magie des Camino? Stimmt das wirklich?

Soziologen und Psychologen stellten, so der Autor, schon in den 70ziger Jahren Verschiebungen fest. Alte Pilgerwege des Westens erfuhren eine neue Interpretation, gestützt auf den Individualismus des Einzelnen: introspektive Prozesse, Reflexion und persönliche Vorstellungen, gepaart mit einer diffusen Spiritualität. Irgendwie die alte Art und Weise des Pilgerns mit den eigenen Vorstellungen in Verbindung bringen, geleitet von leichtverständlichen Codes oder deren Rituale in der Art einer Therapie zu (be-) nutzen. Der so individuell gesteuerte Pilger werde nicht unbedingt das Kontemplative suchen, er suche irgendwie auch immer das Compostela-Abenteuer: die Gemeinschaft der Mitpilger, die Interaktion mit den Hospitaleros, kurzum, er wolle nicht in völliger Einsamkeit durch die Felder streifen. Wer kann schon die völlige Ruhe, vor allem die absolute Stille ertragen? Offensichtlich muß diese Fähigkeit neu erlernt werden. Dazu verhilft in abgespeckter Form ein mehrtägiger Aufenthalt in einem kontemplativen Kloster.

Zum Abschluß zieht der Autor einen interessanten Vergleich zu Papst Johannes XXIII. und dessen berühmten Ausspruch Aggiornamento (auf den Tag bringen / Anpassung an die Gegenwart). Der Papst meinte allerdings nicht damit, was viele nach wie vor glauben, das Zurückdrängen traditioneller Werte und vor allem nicht das Negieren überlieferter Glaubensinhalte. In keiner anderen heiligen wie religiös geprägten Route sei diese große Lehre gespiegelt – denn in diesem Camino de Santiago. Der Jakobsweg sei also mutmaßlich der einzige Weg, der ein wirksames Aggiornamento durchlaufen habe, bei dem christliche und profane Werte zusammengeführt wurden und übergingen in einen globalen Geltungsbereich, somit verständlich auch für Menschen anderer Kulturen denn nur der westlichen.

Anton Pombos Zusammenfassung. Die Pilgerreise gleiche einem gut gefilterten Kompendium der Lehren der westlichen Philosophie, Religion und Geschichte. Sie ermögliche, viele der guten Prinzipien und Einstellungen zu erkennen und zu praktizieren, die einen Menschen tugendhaft machen: in einem linear verlaufenen Raum offen sein, mit anderen interagieren. Mithin ein Anreiz für die persönliche Entwicklung learning by doing. Jede der Herausforderungen stelle eine Prüfung dar, bei der eine Metapher weiterentwickelt werde und deren Werte das Rezept für Wachstum darstelle. Wie die Guten von Star Wars sagen würden, sind und bleiben die Werte des Camino die Kraft, die die Pilger immer begleiten.

Ich schließe mit einem Rekurs auf Javier-Gomez-Montero`s in 2010 herausgegebenem Buch „Wege und Umwege nach Compostela – Ein literarischer Jakobsweg in Castilla y Leon“:

Bewegend wie Gonzalez Sainz die Geschichte einläutet. 23. September. Tag der Vollkommenheit, der Reinheit, mit der der Lichtstrahl am Morgen die Tagundnachtgleiche durch das Fenster der Kirche fallen läßt auf "Mariä Verkündigung" mit Gabriel, dem Verkündigungsengel: Begegnung und Erfüllung. Schwärmend fügt er hinzu, dass Hände wie Gesichter eine unglaubliche Ausdruckskraft besäßen: Verkündigung der Vollkommenheit und Verheißung einer denkwürdigen Gabe. Unglaublich toll formuliert. Ein außergewöhnlicher Schriftsteller halt.

Eine äußerst erfolgreiche, kalt agierende Managerin verliebt sich geradezu in die Einfachheit des Pilgerns – auf dem Camino Frances gen Santiago de Compostela. “In den einfachsten Herbergen“, fuhr sie jetzt mit einer merkwürdigen Fröhlichkeit fort, „stellt man dir eine Pritsche zur Verfügung.“ Freundlich aber bestimmt werde sie zugewiesen, ohne Widerspruch akzeptiert. Man dürfe Waschräume und Toiletten benutzen; eine Nacht Unterschlupf, Schutz vor Kälte oder Hitze, geschundene Füße pflegen, morgens ein kleines Frühstück zu sich nehmen, danach wieder der gleiche Trott, das gleiche Ritual: sich wieder auf den Weg machen, Ruhe finden, wohltuende Ruhe für die im Leben gebeutelten – auf tausenderlei Arten – verlorenen Seelen. Wer mag, findet Gesellschaft, findet Stille, wie auf dem Weitermarsch am nächsten Tag.
„Wissen Sie, mein Leben lang erreiche ich alles, indem ich es befehle, klipp und klar, denn ich verfüge über genügend Mittel und Unmengen von Mitarbeitern, und die Ziele, die ich verfolge, zeigen mir, wenn sie erreicht sind, neue auf. Doch hier suche ich genau das Gegenteil: über nichts zu verfügen, nicht zu befehlen, ohne Abhängigkeiten oder Hast, ohne Überfluß, ohne Berechnung, ohne Interessen oder Luxus.“ Traum? Ja. Wunschvorstellung? Ja. Realität?
calixtinusII
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Matt Merchant
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Re: DIE WERTE DES CAMINO DES SANTIAGO. Der christliche Beitrag.

Beitrag von Matt Merchant »

Wow, lieber Calixtinus, das ist ja eine veritable Sonntagspredigt;
hab' Dank dafür.
Du formulierst einige sehr anregende Gedanken.

Einzig würde ich, quasi aus der Kirchentüre kommend, eine Fußnote anmerken: Unser Herr Jesus ging bewusst zu den Zöllnern und Huren, speiste mit all jenen, die den genannten Direktiven und Geboten gerade nicht entsprachen.

Und ganz in diesem Sinne verdanke ich auf meinen Wegen namentlich Schizophrenen, Junkies, Hippies, Muslimen, Atheisten, Kommunisten - - Menschen halt - einige der schönsten Pilgerbegegnungen, die in Deiner Definition durch den Rost fallen würden.

Gesegneten Sonntag!
Matthias (etwas nuschelig, da mit halbem Döner im Mund)
"Das Unscharfe um das Display herum, das ist der Camino.“ (frei nach M. M. Profitlich) :geek:
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