Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

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Via2010
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Via2010 »

Ich habe auch den von Michael zitierten stimmungsvollen und nachträglichen Beitrag von "alanskyes" im englischsprachigen Forum gelesen und finde, er bringt die Erfahrungen vieler Caminos gut auf den Punkt.

Ich bin dankbar für jedes Camino-Erlebnis, auch die weniger guten. Für manch eigene Dummheit bzw. Selbstüberschätzung habe ich Lehrgeld gezahlt. Ebenso habe ich aber - vor allem auf meinen Solo-Caminos ab 2017 - auch die Erfahrung gemacht, dass ich mehr kann, als ich mir selbst zugetraut habe.

Ob meine Spanischkenntnisse sich durch die Caminos wirklich noch grundlegend verbessert haben (die Kurse an der Uni waren 1993-1995, der erste Camino dann 2006) oder ob ich nur zunehmend die Hemmungen beim freien Sprechen abgebaut habe? Ich weiß es nicht wirklich. Aber inzwischen gehe ich viel freier und neugieriger auf andere Pilger zu und habe so sehr viele interessante Leute kennengelernt.

Berichte über Bettwanzen machten mir Angst. Als es mich schließlich doch einmal erwischt hat (Ostern 2012), war das zwar unangenehm, aber weniger schlimm als befürchtet. Wir haben die Plagegeister erfolgreich bekämpft, in spanischen Apotheken kompetente Hilfe erfahren und es machte diesen Camino auch zu etwas Besonderem.

Der Verlust eines Zehnagels hat mich zunächst erschrocken, mich aber auch gelehrt, dass der Camino mir wichtiger ist als perfekt pedikürte Füße. Auf gute und passende Wanderschuhe möchte ich trotzdem nicht verzichten.

Durch Pilgermenüs konnte ich mitunter spanische Hausmannskost probieren, während das gemeinsame Kochen in einer bunt gemischten Pilgergruppe ein besonderes Gemeinschaftserlebnis war. Was es zu Essen gab, war letztlich nicht so wichtig. Es zählte das Erlebnis der gemeinsamen Mahlzeit. Bei manchen Gerichten musste ich mich überwinden, um den Gastgeber nicht zu brüskieren (z. B. "orejas" - Schweineöhrchen in Soße oder die erste Portion "pulpo"), wurde dann aber angenehm überrascht.

Auch die Vorstellung, in Mehrbettzimmern oder gar Notunterkünften schlafen zu müssen, bereitet mir inzwischen keine schlaflosen Nächte mehr. Von der Bewegung an der frischen Luft war ich jeden Abend so müde, dass ich überall wunderbar geschlafen habe.

Ein wenig ängstigt mich die Vorstellung, dass ich möglicherweise auch im kommenden Jahr nicht den Weg fortsetzen kann. Sei es wegen des Virus, sei es, weil meine Eltern inzwischen gesundheitlich angeschlagen sind und ich sie dann vielleicht nicht mehr so lange alleine lassen kann. Aber die gemeinsamen Caminos mit ihnen (Camino Francés 2006/2007, Via de la Plata 2008-2010) und auch die Erlebnisse mit meinem Neffen (2012) und meiner Mutter (2013-2014) möchte ich nicht missen und die Erinnerung daran wird mir hoffentlich auch helfen, mit diesen neuen Herausforderungen umzugehen.
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Camino-Kumpane
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Camino-Kumpane »

@ Frau Holle Vielen Dank für Deinen Beitrag, in dem sich soviel wahres und im Grunde genommen selbstverständliches findet. Auch ich kann manchmal nicht aus meiner Haut, habe gelegentlich auch einfach gerne mal Recht und möchte, dass die Welt das bitte auch zur Kenntnis nimmt.
Dann ist es nötig, dass jemand um mich rum ist, der vielleicht einfach mal seine "Nehmerqualitäten" nutzt und mich so in meiner Weisheit bestärkt.
Eine schöne Lehrstunde in Sachen "Nehmerqualitäten" durfte ich auf meinem ersten Solo-Camino erleben ;)

Frau Holle hat geschrieben: 2. Dez 2020, 09:22 Provoziert euch nicht unnötig. Brecht keinen Streit vom Zaun. Lasst die Meinungen Anderer ruhig mal stehen, es ist ein Zeichen von Stärke und Größe, wenn man das kann.

Als ich 2012 zum ersten Mal alleine auf dem Camino war, hat sich recht schnell nach und nach eine Caminofamilie aus sieben Leuten gebildet. Einer davon war Luca aus Turin. Luca war ein ziemlich drahtiger, sehr offensiv kommunikativer Typ, der fest davon überzeugt war, dass alles was wirklich gut ist, aus Italien kommt. Die Wanderausrüstung selbst musste selbstverständlich aus italienischer Produktion stammen und auch Tips zur Vermeidung von Blasen waren nur erfolgversprechend, wenn sie aus italienischem Munde kamen. Luca war und ist noch immer ein Pfundskerl, aber manchmal eben ein bisschen anstrengend.

Zur Hochform lief Luca auf dem Camino immer dann auf, wenn es um Wein ging. Außer Gyula aus Ungarn, dem er wenigstens noch Grundkenntnisse in der Auswahl eines Weines zutraute, stellten alle anderen Mitglieder unserer Gruppe schon aufgrund ihrer Herkunft für ihn in dieser Frage von vornherein keine geeigneten Gesprächspartner da. Schon am ersten gemeinsamen Abend legte er kategorisch fest, dass nur eine Investition von 10 € pro Flasche die vage Möglichkeit eröffnete einen ordentlichen Wein zu bekommen. Um dieser Entscheidung Nachdruck zu verleihen, übernahm er fortan das Sponsoring für eine Flasche der täglichen Weinration.
Selbst einkaufen ging er nie, denn mit dem Eintreffen in der Herberge überkam ihn sofort eine bleierne Müdigkeit und er musste nach dem duschen erst mal etwas schlafen.

Wenn die Einkaufstruppe dann die Beute auf den Tisch stellte und berichtete, dass ihr nach eingehender Beratung durch das Personal zu folgendem Tropfen geraten wurde, öffnete er die Flasche, goß sich einen Schluck ins Weinglas, probierte, lächelte zufrieden und wies uns jeden Abend noch einmal darauf hin, dass man eben auch bereit sein müsse, für Qualität einen gewissen Preis zu zahlen. Pflichtschuldig stimmten wir alle ihm lächelnd zu und gelobten, zukünftig auch zuhause nach der gleichen Maxime zu verfahren.

Zwischenzeitlich trennten wir uns in mehrere kleine Gruppen oder liefen alleine weiter, trafen uns aber alle in Santiago wieder.

Als wir angekommen waren, trafen wir uns vor dem alten Pilgerbüro zum Frühstück. Dort drückten wir Luca unser Abschiedsgeschenk in die Hand. Es gab einen schönen Camino-Kapuzenpulli und ein T-Shirt. Natürlich fragte er sich, warum denn er, und nur er, von allen anderen ein Abschiedsgeschenk bekommen würde.
Darauf sagte ihm Christa: "Du hast mir jeden Tag 10 € für den Wein in die Hand gedrückt und ich hab immer nur 2-3 € davon ausgegeben :D , vom Rest haben wir jetzt die Geschenke für dich gekauft."

Für den Bruchteil einer Sekunde entglitten ihm alle Gesichtszüge, aber dann haben wir alle Tränen gelacht.

Wie sagte er zum Schluß: "Ich bin euch ziemlich auf den Geist gegangen, oder? Jaaaaaaaa Luca :mrgreen: :mrgreen: :mrgreen:
Zuletzt geändert von Camino-Kumpane am 2. Dez 2020, 20:47, insgesamt 1-mal geändert.
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Frau Holle
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Frau Holle »

Oh neeeeeein, was für eine herrliche Anekdote! 😁😍
u l t r e i a
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Harmonizer
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Harmonizer »

Camino-Kumpane hat geschrieben: 2. Dez 2020, 20:02 @ Frau Holle Vielen Dank für Deinen Beitrag, in dem sich soviel wahres und im Grunde genommen selbstverständliches findet. Auch ich kann manchmal nicht aus meiner Haut, habe gelegentlich auch einfach gerne mal Recht und möchte, dass die Welt das bitte auch zur Kenntnis nimmt.
Dann ist es nötig, dass jemand um mich rum ist, der vielleicht einfach mal seine "Nehmerqualitäten" nutzt und mich so in meiner Weisheit bestärkt.
Eine schöne Lehrstunde in Sachen "Nehmerqualitäten" durfte ich auf meinem ersten Solo-Camino erleben ;)

Frau Holle hat geschrieben: 2. Dez 2020, 09:22 Provoziert euch nicht unnötig. Brecht keinen Streit vom Zaun. Lasst die Meinungen Anderer ruhig mal stehen, es ist ein Zeichen von Stärke und Größe, wenn man das kann.

Als ich 2012 zum ersten Mal alleine auf dem Camino war, hat sich recht schnell nach und nach eine Caminofamilie aus sieben Leuten gebildet. Einer davon war Luca aus Turin. Luca war ein ziemlich drahtiger, sehr offensiv kommunikativer Typ, der fest davon überzeugt war, dass alles was wirklich gut ist, aus Italien kommt. Die Wanderausrüstung selbst musste selbstverständlich aus italienischer Produktion stammen und auch Tips zur Vermeidung von Blasen waren nur erfolgversprechend, wenn sie aus italienischem Munde kamen. Luca war und ist noch immer ein Pfundskerl, aber manchmal eben ein bisschen anstrengend.

Zur Hochform lief Luca auf dem Camino immer dann auf, wenn es um Wein ging. Außer Gyula aus Ungarn, dem er wenigstens noch Grundkenntnisse in der Auswahl eines Weines zutraute, stellten alle anderen Mitglieder unserer Gruppe schon aufgrund ihrer Herkunft für ihn in dieser Frage von vornherein keine geeigneten Gesprächspartner da. Schon am ersten gemeinsamen Abend legte er kategorisch fest, dass nur eine Investition von 10 € pro Flasche die vage Möglichkeit eröffnete einen ordentlichen Wein zu bekommen. Um dieser Entscheidung Nachdruck zu verleihen, übernahm er fortan das Sponsoring für eine Flasche der täglichen Weinration.
Selbst einkaufen ging er nie, denn mit dem Eintreffen in der Herberge überkam ihn sofort eine bleierne Müdigkeit und er musste nach dem duschen erst mal etwas schlafen.

Wenn die Einkaufstruppe dann die Beute auf den Tisch stellte und berichtete, dass ihr nach eingehender Beratung durch das Personal zu folgendem Tropfen geraten wurde, öffnete er die Flasche, goß sich einen Schluck ins Weinglas, probierte, lächelte zufrieden und wies uns jeden Abend noch einmal darauf hin, dass man eben auch bereit sein müsse, für Qualität einen gewissen Preis zu zahlen. Pflichtschuldig stimmten wir alle ihm lächelnd zu und gelobten, zukünftig auch zuhause nach der gleichen Maxime zu verfahren.

Zwischenzeitlich trennten wir uns in mehrere kleine Gruppen oder liefen alleine weiter, trafen uns aber alle in Santiago wieder.

Als wir angekommen waren, trafen wir uns vor dem alten Pilgerbüro zum Frühstück. Dort drückten wir Luca unser Abschiedsgeschenk in die Hand. Es gab einen schönen Camino-Kapuzenpulli und ein T-Shirt. Natürlich fragte er sich, warum denn er, und nur er, von allen anderen ein Abschiedsgeschenk bekommen würde.
Darauf sagte ihm Christa: "Du hast mir jeden Tag 10 € für den Wein in die Hand gedrückt und ich hab immer nur 2-3 € davon ausgegeben :D , vom Rest haben wir jetzt die Geschenke für dich gekauft."

Für den Bruchteil einer Sekunde entglitten ihm alle Gesichtszüge, aber dann haben wir alle Tränen gelacht.

Wie sagte er zum Schluß: "Ich bin euch ziemlich auf den Geist gegangen, oder? Jaaaaaaaa Luca :mrgreen: :mrgreen: :mrgreen:
Wunderschön!! :-) Und vor allem eeecht toll geschrieben - habe mich beim Lesen ein bisschen so gefühlt, als wäre ich dabei gewesen. :-)
* * * B u e n C a m i n o * * *
Master
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Master »

Hola,
tolle Beiträge.
Danke Birte :) , Danke Alexandra :) und Danke Camino Kumpane :D .

You made my day. :lol:

Alles ganz herrlich, authentisch und wunderbar geschrieben.

Dafür liebe ich dieses Forum.


Bleibt Gesund

Kurt
..ich bin nicht krank, ich bin nur nicht gesund
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CyrusField
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von CyrusField »

Kennt nicht jede/r irgendwie einen Luca? Großartige Geschichte, vielen Dank fürs Teilen!
Camino Francés 2018
Mosel-Camino 2019
Via Mosana 2019 - ... (das wird noch :lol:)
Caminho Portugês Central 2020
Camino Inglés 2022
...und auch sonst viel zu Fuß unterwegs: https://stefansspuren.com 8-)
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Annkatrin
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Annkatrin »

Bewundernswert die Gelassenheit der Mitpilger, aber auch Luca scheint ein Licht aufgegangen zu sein

"Wie sagte er zum Schluß: "Ich bin euch ziemlich auf den Geist gegangen, oder? "Jaaaaaaaa Luca :mrgreen: :mrgreen: :mrgreen:

Passt doch in die Zeit
Zuletzt geändert von Annkatrin am 4. Dez 2020, 06:50, insgesamt 1-mal geändert.
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Harmonizer
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Harmonizer »

Aus der Rubrik: "Der Camino gibt Dir was du suchst / brauchst."

Bei meinem ersten CF 2014 war ich während meiner ersten Etappe zwischen SJPDP und Roncesvalles natürlich überfordert mit all den Eindrücken, Gefühlen, Schmerzen, Emotionen und der überragend großen Masse an Menschen, die aus allen Herrenländer zu kommen schienen.
Ich hatte mich nach dieser Etappe irgendwie in eines der Restaurants gekämpft um mein erstes Pilgermenü zu mir zu nehmen und habe dort gegen Ende meines Aufenthalts eine Frau von weitem entdeckt, zu der ich mich vom ersten Augenblick an auf positiv beängstigenderweise hingezogen fühlte. Es war nicht Amors Pfeil, der mich da traf, viel mehr war ich unglaublich neugierig diese Frau kennenzulernen, weil sie mich ganz unerklärlich faszinierte. Immernoch zutiefst beeindruckt von dem Tag (und auch ein klein Bisschen, weil ich mich nicht traute), ging ich ins Bett ohne das Gespräch zu ihr zu suchen, in der Hoffnung sie am nächsten Tag auf der Etappe wieder zu sehen und ggf kennen zu lernen. Der Nächste Tag brach an, ich ging los, immer noch ganz beeindruckt, sah die Dame allerdings nicht wieder. Die weiteren Tage vergingen, ich groovte mich mehr oder weniger immer mehr ein, bis ich aufgrund unsagbarer Schmerzen in den Füßen, in Granon einen Tag Pause einlegen musste. Da ich in der Zwischenzeit zwei wundervolle Menschen kennernlernen durfte, die allerdings beide 2 Wochen weniger Zeit hatten als ich, gingen diese weiter und konnten sich mir pausentechnisch nicht anschließen. Um den Anschluss an die beiden nicht zu verlieren, entschied ich mich dazu von Granon mit dem Bus nach Burgos zu fahren, wo ich ihnen dann wieder einen Tag voraus war und somit noch einen weiteren Tag Pause nutzen konnte um meine ledierten Füsse zu regenerieren. Und ja, natürlich fühlte ich mich „schuldig“ den Bus zu nehmen, bzw fühlte es sich sofort doof an drin zu sitzen, aber die Sehnsucht den Weg mit meinen beiden neuen Freunden fortzusetzen war einfach größer.

Es war ca 11 Uhr als ich in Burgos eintraf und mich direkt in Richtung öffentlicher Pilgerherberge aufmachte. Von weitem konnte ich dann schon Rucksäcke erkennen, die am Eingang zur Herberge an der Wand lehnten und deren Besitzer offensichtlich in der gegenüberliegenden Bar saßen. Ich näherte mich ihnen zusehends und erkannte dann ab einem gewissen Moment, dass da die Dame aus Roncesvalles saß, die ich seither nicht wieder gesehen hatte. Ich war unfassbar glücklich darüber und anders als an meinem ersten Abend, ging ich schnurstracks auf sie zu und sagte: „Hey, schön, dass wir uns wieder sehen!“ und sie nur so.... glotz glotz... man konnte förmlich die Fragezeichen über ihrem Kopf erkennen. :-D :-D
Schließlich fragte sie „äh, kennen wir uns?!“, worauf hin ich ihr offen meine Geschichte erzählte. Es war wie es kommen musste... natürlich verstanden wir uns auf anhieb. Es stellte sich heraus, dass auch sie einen Tag Pause einlegen wollte und schnell entschieden wir uns dazu den Tag in Burgos gemeinsam zu verbringen. Und natürlich sollte der Tag in Burgos eines meiner Highlights auf dem gesamten Weg werden. Wir lernten uns kennen und am Ende des Tages hatten wir beide das Gefühl uns schon seit Jahren zu kennen. Das ist übrigens - so finde ich zumindest - eines der großartigen Phänome auf dem Weg: Mit den richtigen Leuten braucht man dort kein großes Vorgeplänkel, man kommt i.d.R. schnell zum Punkt.
In der Herberge teilten wir uns dann sogar eine gemeinsame Bettenecke und am nächsten Tag setzten wir den Weg gemeinsam fort. Es war der Tag, an dem sie als vierte im Bunde unsere kleine Reisegruppe bereichern sollte. Bis heute haben wir Kontakt, auch wenn uns ettliche Kilometer trennen (sie wohnt am Genfer See), ohne Corona haben wir uns auch relativ regelmässig gesehen. Nochmal: Es ging nicht darum eine Liebe des Lebens kennengelernt zu haben, das haben wir relativ schnell für uns erkannt... viel mehr noch: Wir haben uns als Freunde nicht gesucht, aber dennoch gefunden. Sie ist ein wahres Geschenk des Weges 2014. :-)

Ja, das vermisse ich sehr. Und ich freue mich darauf iiiirgendwann wieder unterwegs zu sein und dieses besondere Gefühl wieder fühlen zu dürfen. :-)
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Raimund Joos
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Raimund Joos »

Evtl kennt jemand ja das Gedicht von Rainer Maria Rilke.... Er beschreibt einen gefangenen Panter

Seit Monanten fühle ich mich ähnlich...

BC

Raimund

_______________________________________________________

DER PANTHER

IM JARDIN DES PLANTES, PARIS

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
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beliperegrina
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von beliperegrina »

Oh, wie traurig.
Hoffen wir, dass sich unsere "Gitterstäbe" bald öffnen...

VG, Beliperegrina
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Camino-Kumpane
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Camino-Kumpane »

Manchmal löst man Gefühle im Gegenüber aus, die weder beabsichtigt, noch vorhersehbar sind....

Als ich in Carrion de los Condes in der Herberge direkt an der Kirche eintraf, wurde ich von einer der Ordensschwestern sehr überschwänglich begrüßt.

Ich hatte einen wunderschönen, emotional sehr aufwühlenden Tag hinter mir und diese tolle Begrüßung gab mir Rätsel auf, denn sie strahlte über das ganze Gesicht und begrüßte mich mit meinem Vornamen - woher auch immer sie den kannte.

Am frühen Abend gab es vor der Messe in der Herberge ein Zusammensein, bei dem man, wenn man denn wollte, mitteilen konnte, wer man ist, woher man kommt und warum man sich auf den Weg nach Santiago gemacht hatte.

Ziemlich zu Beginn erzählte Dario aus Italien von seinen Beweggründen für die Pilgerreise. Da er nur italienisch sprach, übersetzte der junge Mann neben ihm ins englische. Vor Jahren standen Dario und seine Frau vor der Geburt ihres ersten Kindes. Leider verlief die Geburt katastrophal und die Ärzte teilten Dario mit, dass sie das Kind nicht würden retten können und auch für das Überleben seiner Frau machten sie ihm nur wenig Hoffnung. Doch wie durch ein Wunder schafften es die Ärzte beider Leben zu erhalten, rieten aber aufgrund dieser Erfahrung von einer weiteren Schwangerschaft dringend ab. Immer wieder brach ihm die Stimme und er mußte sich ein wenig sammeln.
Jahre später fragte aber seine kleine Tochter immer wieder, ob sie nicht ein Geschwisterchen bekommen könnte. So beteten er und seine Frau zum heiligen Jakobus um Hilfe und im Frühjahr 2012, wenige Monate vor Darios Camino, kam ihr gesunder Sohn ohne Probleme zu Welt.
Zum Dank hatte sich Dario nun zu Fuß von Palermo auf den Weg nach Santiago gemacht, um dem Heiligen für seine Hilfe zu danken.
Sicher kann sich jeder vorstellen, wie viele Tränen auch bei den Zuhörern geflossen sind.

Im weiteren Verlauf sangen wir das spanische Lied "Allegria" nach einer Melodie von Beethoven. Als es verklungen war, strahlte mich eine der Schwestern an und bat mich, das Lied einmal allen in der deutschen Originalfassung "Freude schöner Götterfunken" vorzusingen. Das tat ich auch, denn ich habe in einigen Jahrzehnten Chorerfahrung mittlerweile alle Hemmungen in dieser Richtung abgelegt.
Am Abend feierten wir dann eine wunderschöne Messe mit anschließendem persönlichen Pilgersegen für jeden Pilger in der Kirche.
Als ich am nächsten morgen wach wurde, war Darios Pilgergruppe, die die Betten um mich herum belegt hatten, schon, wie ich annahm, auf nimmer wiedersehen verschwunden.

Erst in Santiago sah ich ihn während der Pilgermesse wieder, als er, tief bewegt, an einer der Säulen in der Kathedrale stand. Nach der Messe trafen sich wie immer alle auf der Praza do Obradoiro. Als Dario mich sah, löste er sich quasi in Tränen auf, rief immerzu "Michelle, Michelle", stürmte auf mich zu und drückte mich an sich, als wollte er mir alle Knochen im Leib brechen.
Ich bat Luca für uns zu übersetzen und er fragte ihn für mich, warum er sich denn so sehr freuen würde mich zu sehen - wir hatten bis dahin kein einziges Wort miteinander gewechselt und uns nur in Carrion gesehen.
Dario sah mich an und antwortete: "Aber Du hast doch für mich und mein Anliegen gesungen - für mich, meine Frau und meine Kinder. Das werde ich dir nie im Leben vergessen."

Dario war ein Kerl wie ein Baum und wir beide weinten, einander in den Armen liegend, wir kleine Kinder.

So sorgte ein kleines Lied unbeabsichtigt für einen der bewegendsten Momente in Darios und meinem Leben und auch jetzt, nach mehr als acht Jahren, steigen mir die Tränen in die Augen, wenn ich diese Zeilen schreibe.
Zuletzt geändert von Camino-Kumpane am 4. Dez 2020, 17:38, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Uti »

Camino-Kumpane hat geschrieben: 3. Dez 2020, 18:42 und auch jetzt, nach mehr als acht Jahren, steigen mir die Tränen in die Augen, wenn ich diese Zeilen schreibe.
.... und auch mir ging es beim Lesen nicht anders.
Danke fürs Teilen dieses Moments.
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Gerhard.1 »

Eure Geschichten und Erlebnisse auf dem Camino sind alle wunderschön und anrührend zu lesen und
ich empfinde deshalb nach den Turbulenzen der vergangenen Tage schon so richtige Weihnachtsstimmung in mir aufsteigen,
was mich sehr froh und glücklich macht. Dafür danke ich euch allen sehr und wünsche euch ebenfalls tiefen Frieden im Herzen.
LG Gerhard
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Harmonizer
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Harmonizer »

Uti hat geschrieben: 3. Dez 2020, 19:15
Camino-Kumpane hat geschrieben: 3. Dez 2020, 18:42 und auch jetzt, nach mehr als acht Jahren, steigen mir die Tränen in die Augen, wenn ich diese Zeilen schreibe.
.... und auch mir ging es beim Lesen nicht anders.
Danke fürs Teilen dieses Moments.
So ging es mir auch gerade. Danke fürs Teilen dieser Geschichte...
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Shabanna
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Re: Camino-Sehnsucht und -Erfahrung

Beitrag von Shabanna »

Harmonizer hat geschrieben: 4. Dez 2020, 08:07
Uti hat geschrieben: 3. Dez 2020, 19:15
Camino-Kumpane hat geschrieben: 3. Dez 2020, 18:42 und auch jetzt, nach mehr als acht Jahren, steigen mir die Tränen in die Augen, wenn ich diese Zeilen schreibe.
.... und auch mir ging es beim Lesen nicht anders.
Danke fürs Teilen dieses Moments.
So ging es mir auch gerade. Danke fürs Teilen dieser Geschichte...
Bei mir kam auch noch Gänsehaut hinzu!

Danke.

LG,
Andrea
No creo en casi nada que no salga del corazón.
(Fito Páez)

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