ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Von St. Jean Pied de Port auf dem navarrischen oder vom Somportpass auf dem aragonischen Weg nach Santiago
calixtinusII
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ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von calixtinusII »

Interessanter Artikel von gronze.com: https://www.gronze.com/noticias/profana ... rgos-21652
Es grüßt calixtinusII
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CyrusField
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von CyrusField »

Das war/ist hier schon Gesprächsthema.

Man muss die Gestaltung ja nicht schön finden. Aber Entweihung? Ich weiß ja nicht... :?:
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...und auch sonst viel zu Fuß unterwegs: https://stefansspuren.com 8-)
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Raimund Joos
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Raimund Joos »

Na ja. Ich glaube kaum daß sowas der Weihe einer Kirche wirklich abträglich ist.
Das wäre schon eine recht schäbigen Weihe die sowas nicht aushalten würde

Bon Camino von

Raimund
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Matt Merchant
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Matt Merchant »

Vielleicht muss moderner Kunst auch einfach etwas Zeit gegeben werden...
Als im Übergang von der Romanik zur Gotik allerorten die Fenster spitz gemacht wurden, hat garantiert auch so mancher konservative Architekt damals eine Entweihung befürchtet...
Nun, geben wir den Türen eine Chance. Vielleicht sind sie ja irgendwann Kult und es entwickeln sich irgendwelche lustigen Pilgerrituale drumherum...?

...Und im schlimmsten Fall kann man sie ja wieder ausbauen und eine Kanone draus gießen.
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Christoph Kühn
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Christoph Kühn »

In der vergangenen Woche hatte ich bereits in dem anderen Thread zu diesem Thema geäußert, dass ich den Entwurf gar nicht so schlecht finde.

Hier die Begründung für meine Auffassung:

Es handelt sich um die Westfassade der Kathedrale, die um 1790 aufgrund einer klassizistischen Überformung ihrer Portalzone optisch aus dem Gleichgewicht geraten war. Man hatte damals die Portalzone mit einem Fassadenhobel geglättet und anstelle der drei gotischen Figurenportale einfacher gestaltete Eingänge eingefügt. Seitdem fällt der Portalbereich gegenüber den mit reicher Gotik gegliederten Fassadengeschossen unangenehm ab; als Betrachter hatte ich stets bei meinen Besuchen der Kathedrale das Gefühl, dass hier etwas fehlen würde.

Eine optische Aufwertung der Portalzone wäre dringend notwendig. Doch ein gotisierender Rückbau auf den Vorzustand kann nicht in Frage kommen, da die klassizistischen Bauteile aus dem späten 18. Jahrhundert inzwischen ihrerseits schützenswert sind. Zudem wüsste man nicht, was eigentlich zurückgebaut werden soll: Die ursprüngliche Gestalt der Portale ist unbekannt und entzieht sich einer Rekonstruktion.

Eine ebenso einfache wie wirksame Lösung des Problems bietet meines Erachtens das Kunstprojekt von António López. López gilt als der wichtigste spanische Vertreter des Hyperrealismus. Zur Arbeitsweise der Hyperrealisten gehört es, nicht allein nach Fotografien zu arbeiten, sondern diese Vorlagen in eine überwirkliche, hyperrealistische Darstellungsform zu steigern. Vorlagen werden nicht einfach abgezeichnet oder abgeformt, sondern gezielt übersteigert, um die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu erfassen. Da eine Voraussetzung dafür darin besteht, die Abgebildeten auf den Vorlagen genau zu kennen, war es für López naheliegend, auf Fotografien der eigenen Familie zurückzugreifen.

Dies hatte jedoch, als im Februar 2021 eine Probehängung der Entwurfsplanen veranlasst wurde, zu heftigem Widerspruch in der Stadtbevölkerung wie auch bei zahlreichen Freunden der Kathedrale und des Jakobsweges geführt. Der Vorwurf einer Selbstinszenierung des Künstlers an prominenter, ihm nicht zustehender Stelle wurde laut.

Doch nicht um eine Selbstinszenierung des Künstlers geht es hier, sondern um das ernstzunehmende Bemühen, das vorgesehene inhaltliche Programm der drei Portale in eine überwirkliche Darstellungsform zu fassen. Das Projekt ist meines Erachtens ebenso mutig wie für den Ort angemessen. Eine kleinteilige Lösung würde das Ziel, die Portalzone im Gesamterscheinungsbild der Fassade aufzuwerten, weit verfehlen. Dies zeigen bereits die beiden kleinen Figurenpaare auf den Portalzwischenpfeilern. Ein großfiguriger Hyperrealismus, wie vom Künstler und seinen Auftraggebern beabsichtigt, dürfte dagegen sehr gut geeignet sein, der Fassade ihr verlorenes Gleichgewicht zurückzugeben.

Viele Grüße

Christoph
"70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind in Europa wieder Städte von der Auslöschung bedroht."

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Matt Merchant
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Matt Merchant »

Lieber Christoph,

das ist eine kluge und überzeugende Argumentation; danke dafür.
Insbesondere Deine Hinweise auf die Fehler in den Proportionen in der Fassade waren mir neu.

Nun werden wir sehen, in welche Richtung das Pendel des Massengeschmacks ausschlägt:
- Das Guggenheim-Museum auf dem Del Norte wurde ja mitttlerweile als Pilger-Must-Have allgemein akzeptiert.
- Das Papst-Denkmal auf dem Monte-do-Gozo hingegen sorgt noch immer für kalte Schauer des Entsetzens. Von der Virgen-del-Camino-Kirche ganz zu schweigen...

Liebe Grüße,
Matthias
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donjohannes
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von donjohannes »

@Christoph,

Hmmm. Wenn Hyperrealismus das alleinige Ziel wäre (ganz abgesehen davon, ob kirchliche - und noch mehr gotische - Ikonographie nicht von ungefähr das Element der Abstraktion kennt) was hätte dann dagegengesprochen etwas tiefer zu gehen, als die eigene Familie des Künstlers? Das Phänomen ist zwar nicht ganz neu, dass Künstler sich selbst oder ihnen bekannte Personen in Werke einarbeiten (wobei in frommeren, gotischen Zeiten hätten sich die meisten Künstler zusammen mit dem Stifter zu Füßen den Herrn als beispielhafte Sünder und Bittende dargestellt), aber sogar dort, wo man etwas vermessener war, hätte vor dem Medienzeitalter kaum jemand im Abbild etwas anderes erkannt, als der religiöse Kontext nahe legte. Heute jedoch - und noch mehr beim Hyperrealismus - wird es schwierig jemanden anders zu sehen, als der der wie auf einem Foto dargestellt wird. Dabei wäre es auch tiefsinniger gegangen, wie ich meine. Das Evangelium sagt, dass Christus uns vor allem in der Armen begegnet. Warum nicht einen Obdachlosen als Bildvorlage für Christus nehmen? Warum nicht eine fromme betende Mutter, die ihr Kind verloren hat, als Vorlage für Maria? Warum nicht ein Flüchtlingskind für Jesus Modell stehen lassen, der als selbst Kleiner vor Herodes flüchten musste? Das wäre tiefsinniger, meine ich, und hyperrealistisch umsetzbar - wenn das auch nicht bedeutet, dass Hyperrealismus die beste Ergänzung für ein Gesamtwerk im symbolischsten Baustil des Westens sein muss. In jedem Fall, wäre der Aufschrei wohl zumindest geringer ausgefallen.
Ich sage nicht, dass man sich nicht auch das Bild einer Familie schönreden kann, das natürlich ebenfalls die Handschrift Gottes trägt, aber hier gibt es mehr Unähnlichkeiten (gerade in der Dynamik Vater=Jesus, Mutter=Maria, Kind=Jesus) und eben dem Problem, dass es als Selbstdarstellung wahrgenommen wird (schlimmer noch, wenn der Künstler vielleicht gar nicht so aus dem Glauben der Kirche lebt - ich wage das mal in den Raum zu stellen, denn mir fallen wenig fromme, d.h. katholisch empfindende Künstler ein, die diesen Schritt gegangen wären). Er würde übrigens auch nicht wohlwollend ausgelegt, wenn der Künstler das Portrait des aktuellen Bischofs als Vorlage für Jesus genommen hätte. Dabei besitzt dieser theologisch sogar wirklich eine Gleichförmigkeit mit Christus kraft der Weihe und handelt wenigstens zeitweise in genau diesem Gebäude in persona Christi. Aber es würde ihm - und ich neige zuzustimmen - als Vermessenheit ausgelegt (noch mehr als Bischof Paglia, der sich in seiner Kathedrale in Terni unlängt in einem Fresko nackt von Christus in den Himmel heben lässt). Einfach keine gute Optik. Da hilft auch das "Rechtfertigen" nicht (das ich aus dem Kunststudium und den Examen dazu gut kenne). Kunst in der Kirche ist kein Selbstzweck, sondern einer Botschaft untergeordnet. Kommt diese Botschaft nicht an (auch wenn sie existiert) oder kann nicht auf der Grundlage eine oberflächlich stimmigen Botschaft entdeckt werden, dann ist das Werk nicht geeignet.
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Matt Merchant
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Matt Merchant »

Lieber Pater Johannes,

danke für Deine Argumentation. Ich bin nicht Christoph, an den Du schriebst; darf ich mich trotzdem äußern?
Ich muss nämlich zugeben, dass ich Dein Plädoyer in drei wesentlichen Punkten nicht teile. Bitte erlaube mir daher, ebenfalls als studierter Kunstwissenschaftler, in drei Aspekten Rückfragen zu stellen:

- Sind nicht Selbstdarstellungen der Künstler in ihren Werken schon immer, gerade auch jenseits der Stifterfiguren, eine mal augenzwinkernde, mal widerständige Geste gerade auch in der kirchlichen Kunst gewesen? Ein kritisches Korrektiv...? Berninis David, Dürers Selbstbildnis, Da Vincis Abendmahl... Kunst verhindert auf diese Weise, zu einer reinen Hilfsdisziplin - zu Handwerk und Auftragsarbeit zu werden.
- Zur Kunst gehört m.E. das narzisstische 'Ich' des Künstler, der Künstlerin, notwendig dazu, denn ein Künstler kann ja nur aus diesem Ich heraus die Welt deuten. Auch da befindet sich unser Tür-Gestalter in einer langen Tradition. Der Hyperrealismus bringt diesen alten Mechanismus lediglich an den Tag und stellt ihn zur Diskussion.
- Deiner These dass Kunst "in der Kirche ist kein Selbstzweck, sondern einer Botschaft untergeordnet" sei, kann ich leider auch nicht widerspruchslos verstehen. Denn dort, wo Kunst sich einer Ideologie - sei sie politisch oder religiös - unterordnet, wird sie impotent. Kunst muss entgrenzen. Und die epochalen kirchlichen Kunstwerke wiesen immer auch über ihre Zeit, ihre Institutionen und ihre Auftraggeber hinaus.
Ich erinnere als Beispiel an die großartig-impertinente 'Verzückung der Heiligen Theresa' des Bernini. In Stein gehauene Pornographie, die eben nur vorgibt, heilig zu sein. Ein Werk, das uns heute in der Kunstwisenschaft weniger im Diskurs über mystische Verzückung als vielmehr über weibliche Sexualität dient und dafür zahllose Buchdeckel ziert... Da war Bernini seiner Zeit voraus... https://de.wikipedia.org/wiki/Verz%C3%B ... en_Theresa

Sollte ich Teile Deiner Argumentation falsch verstanden haben, so bitte ich um Nachsicht und Korrektur.
Aber würde mich allemal über eine Kunst-Diskussion freuen (die ich im Lockdown so sehr vermisse!).

Brüderliche Grüße - vom Protestanten-Campus in die Eremitage!
Matthias
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Matt Merchant
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Matt Merchant »

Ein Nachtrag: Ich glaube, ich kann jetzt auf einen kernigen Satz bringen, wo ich in der Argumentation eine andere Meinung vertrete:

In meinen Augen ist Kunst nicht dazu da, Gott zu deuten, sondern ein Mittel, um Ihn und seine bunte Schöpfung zu loben und zu preisen.
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donjohannes
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von donjohannes »

Bin zu müde heute nach einem Nachmittag im Garten aber ein paar Dinge:

- Ich habe darauf hingewiesen, dass es Selbstdarstellungen immer wieder gab und gibt - vor allem ab der Rennaissance. Aber es ist kein religiöser Impuls, sondern ein westlich-neuzeitlicher. Im ersten Jahrtausend und darüber hinaus wurden Werke geschaffen, von denen wir den Schöpfer nicht kennen, weil dieser es noch nicht einmal für notwendig hielt, das eigene Werk zu signieren. Narzissmus begleitet die Kunst (und viele Künstler), ist aber nicht ihre Bedingung. In vielen christlichen Kirchen des Ostens (auch den katholischen Ostkirchen) ist das heute noch so. Ikonen werden nicht signiert. 1000m² Fresken folgen einem Formenkanon statt artistischer Selbstverwirklichung. Dem liegt ein anderes Kunstverständnis zugrunde (und vielleicht die bleibendere Bedeutung des Platonismus in jenen Traditionen).

- Ich unterscheide zwischen liturgischer (kirchlich) und religiöser Kunst (sujet). Religiöse Kunst? Anything goes. Liturgische Kunst? Wir haben hier konfessionsbedingt vermutlich nicht den gleichen Zugang. Im Katholischen erhalten Bild, Ton, Bau (als liturgische Kunst) ihr Maß und ihre Bestimmung vornehmlich aus dem zentralen christlichen Mysterium, aus dem die Kirche Leben schöpft, sprich der Opferhandlung am Altar. Kunstformen müssen dort dienen, weil sie sonst an die Stelle dessen treten, das allein zentral sein kann (die Gegenwart Gottes im Sakrament). Sie dürfen den Rahmen bilden, aber nicht den Fokus auf sich ziehen. Aus diesem Grund wurden im Zuge der kirchlichen Reform (liturgische Bewegung ab Mitte des 19. Jahrhundert bis hin zum 2. Vatikanum) etwa Konzertmessen als liturgischer Missbrauch erkannt, sofern die Musik die Liturgie bestimmt und nicht umgekehrt. Es geht nicht um den Wert des Werkes oder seine Schönheit, mit der es den Schöpfer preist, sondern um seine Angemessenheit für einen Zweck.

- Beurteilungen von Berninis Theresa sagen (wie viele Kunstinterpretationen) weniger über Berninis Theresa als über jene, die dafür das Wort "Pornographie" (Eros hätte ich gelten lassen) verwenden wollen. Denn Pornographie bedeutet die Darstellung des Geschlechtsakts zur sexuellen Eregung und das ist bei den meisten psychisch gesunden Menschen weder der Fall, wenn sie Theresas mystische Erlebnisse lesen, noch wenn sie Sta Maria della Vittoria besuchen. Gut, der Marchese de Sade dachte bei der Betrachtung der Skulptur an sein Liebesbett: "Si c'est cela l'extase mystique, je connais bien des femmes qui l'ont éprouvée". Aber der Marchese ist ja nicht unbedingt eine Ausgeburt an Frömmigkeit. Die Deutung auf der verlinkten deutschen Wikipediaseite entstammt der psychoanalytischen Schule und dieser messe ich den gleichen Wert bei, wie den psychoanalytischen Interpretationen von Hänsel und Gretel (die durchaus faszinierend sind, aber die Wirklichkeit gezwungen auf Freud'sche Kategorien reduzieren: "Hexe als Nährmutter". Krümmellegen als "orale Fixierung des Hänsel" usw.). Man wechsle bei Wikipedia auf English und schon lerne man etwas über ganz zahme Interpretationen.

Aber ich will Bernini ja eigentlich gar nicht verteidigen, da ich den Barock zwar gegenreformatorisch wider die protestantischen Ikonoklasten und Kunstzerstörer historisch einordnen kann (und es großartige Werke in jener Epoche gibt), aber persönlich Romanik und Gotik als "geistigere" Formen kirchlicher (d.h. liturgischer) Kunst vorziehe: Gregorianik statt Orchester. Proportionsmystik statt fetter Prunk. Goldgrund statt adipöse Putti. Alte konstantinische Petersbasilika statt neuem Petersdom. Und gerade da hätte ich gedacht, damit bei einem evangelischen Christen punkten zu können ;-)
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Gertrudis
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Gertrudis »

Ich bin mir bei der Kathedrale von Burgos ohnehin nicht sicher, ob all die Pracht darinnen tatsächlich der größeren Ehre Gottes oder nicht doch der Präsentation irdischer Macht und Eitelkeit dient...
Und weil hier gerade "heiliger Eros" angesprochen wurde... gerade in der Kathedrale von Burgos habe ich einige nette Beispiele gefunden, hier eine kleine Auswahl:

Bild
Bild
Bild

Auch dieses Werk fand ich persönlich stilistisch etwas gewöhnungsbedürftig, aber Geschmackssache:
Bild

Die Kathedrale von Burgos ist (auch) ein großartiges Panoptikum - ich denke, sie wird auch die neuen Türen verkraften. (Obwohl ich mich frage, wie man diese schweren Bronzetüren beim Öffnen und Schließen bedienen soll...)
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donjohannes
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von donjohannes »

@Gertrudis
Über Bauten zur Ehre Gottes kann man streiten
Aber vielleicht zur Präzisierung:
- Wie Pornographie (laut griechischem Wortsinn und allgemeiner Verwendung) verstanden wird, habe ich ja schon oben erwähnt.
- von "heiligem Eros" sprach m.W. niemand, sondern schlicht von Eros. Dieses Wort ist ebenfalls griechisch. Die alten Griechen hatten drei Wörter für Liebe, die in der Philosophie bis heute weiterleben:
philia = Liebe (in einer Freundschaft)
agape = ein Wohlwollen dem Anderen
eros = heftiges/leidenschaftliches Streben nach der Verbindung mit dem Geliebten (Ding oder Person)
Eros, wie daraus klar sein solltem findet man demnach nicht nur im Bett, sondern auch in der Politik (d.h. Vaterlandsliebe) und überall. Er kann sich nach etwas Geistigem wie einer Tugend ausstrecken oder natürlich nach Gott.
Deine "Beweisbilder" suggerieren, dass du Eros mit Nacktheit gleichsetzt (vermutlich weil umgangssprachlich aus Erotik = "Pornographie light" geworden ist). Aber um das geht es hier nicht. Und wenn ich deine Bilder ansehe, geht es auch in diesen nicht darum. Das erste zeigt das Martyrium der hl. Agatha, der man als Folter die Brüste abgeschnitten hat. Wer das als "turn on" braucht, der sollte zum Psychiater. Bild 2 könnte die Todsünde der Wolllust darstellen. Bild 3 bin ich nicht sicher (Maria Magdalena), aber Nacktheit war nicht immer so verrufen wie heute. Und sie hatte und hat auch nicht immer Erregung als Ziel. Nacktheit findet man auf jeder Darstellung des Jüngsten Gerichts (schon lange vor der Sixtina). Und während sich manche heute über stillende Mütter in der Öffentlichkeit erregen, gibt es sogar Marienbilder, welche die Brust Mariens zeigen. Nur hat all das nichts mit "Erotik" in deinem Sinne zu tun. Und noch nicht einmal mit eros. Auf meiner Alpentour habe ich die Madonna von Re besucht. Hier (ab Minute 4) eine kurze Erklärung zur stillenden Gottesmutter: https://www.youtube.com/watch?v=tUHkuMm ... Z&index=55
Dass die Kathedrale, die neuen Türen "verkraften" wird, da stimme ich dir zu. Ich persönlich stimme dir auch zu, dass sie bereits Bild Nummer 4 "verkraften" muss. Wer Kunst in den öffentlichen Raum stellt, setzt sich ja dem Urteil der Menge aus. Das Lob will ja jeder gerne einstreifen. Die Kehrseite davon ist Kritik. Und dieses Vorhaben scheint stilistisch und inhaltlich nicht nur einige Gemüter hier im Forum zu erregen, sondern auch vor Ort. Ich persönlich finde es, wie dargelegt, unter beiden Aspekten (Stil, Inhalt) keine gute Wahl (wobei ich ehrlicherweise nicht genau weiß, wie man den angeblichen Hyperrealismus in Bronze rein technisch überhaupt realisieren kann).
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Matt Merchant
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Matt Merchant »

Lieber Pater Johannes,

ich danke Dir, dass Du Dir trotz des anstrengenden Tagewerks die Zeit für dieses kleine Kunstgespräch nimmst; ich merke, wie stark ich so etwas in Corona-Zeiten vermisse. Tatsächlich sind wir in so manchen Aspekten argumentativ garnicht so weit voneinander weg - so würde ich eine gute Gabrieli-Motette jedwedem evangelikalen Lobpreis-Schlager vorziehen; und wie Du die Schönheit und das lichte, schlichte Emporstreben von Romanik und Gotik über die Üppigkeit des Barock stellst, erinnert mich an die Bücher und herrlichen Argumentationen Joseph Ratzingers, die ich theologisch hoch wertschätze.
Und ich danke unserem Schöpfer, dass er uns moderne Kunst-Genies wie Messiaen und Poulenc geschenkt hat, die dieses Erbe in die Moderne denken.

Hier sehe ich ein, dass ich den 'Pornographie'-Begriff unpräzise verwendet habe und er für Bernini oder auch die Kathedrale zu Burgos nicht passgenau ist.
Und doch stelle ich mich seit Längerem die Frage, ob es nicht unsere typisch 'nordeuropäische' Verkopftheit ist, in solchen Kunstdingen eine harte Kierkegaardsche Dialektik geltend zu machen: 'Entweder - Oder' ... Vielleicht ist das sogar im Katholizismus ein Erbe der Reformation.
Denn gerade die Italiener, Spanier und auch Franzosen zeigen und doch mit ihrer (sakralen) Kunst, wie man sowohl Gotteslob als auch Erotik zu einer Symbiose zusammenfügt und das eine im anderen hat. Warum sollen sich die Menschen beim Anblick einer barbusigen 'Madonna lactans' nicht - neben frommer Anbetung - auch erotisch angeregt haben? Kirchliche Kunst war im Mittelalter oft die einzige Form, Nacktheit zu konsumieren. Ich möchte mutmaßen, dass sie da eine sehr subtile Doppelfunktion erfüllt(e), sie sich uns nicht erschließt, wenn wir das eine mit dem anderen totschlagen. Wie überhaupt die Kultur des Südens eine viel lockere Haltung zu vielem hat, was wir als 'Doppelmoral' bezeichnen würden (Eine anderes Beispiel: Die Mafia und ihre tiefe Religiosität. Warum pilgern Capos zu Pater Pio, wenn eine Massaker glückte...?)

Ein anderes, treffendes Beispiel: Gerade in Italien begegnet man oft der - mir persönlich gruseligen - Tradition, die Körper regionaler Heiliger zu exhumieren und als Wachs- oder Silikonpuppen in Glassärgen zur Verehrung auszustellen. Jüngstes Beispiel ist der (arme) Carlo Acutis in Assisi (Über dessen Präsentation als Silikon-Leiche die 'Zeit' lästerte: 'Die Katholische Kirche will sich verjüngen; also gräbt sie einen toten Jungen aus'). [Wer Bilder sucht, möge das bitte selbst googeln].
Oft wird diesen Heiligen Leibern dann ein geradezu sinnliches, erotisches Lächeln ins Gesicht modelliert, wie es Tote eben nicht haben können (Mir bereitete das als Kind Alpträume; da hört für mich ganz persönlich Spiritualität auf, beginnt Nekrophilie). Manchmal - ich übertreibe nicht - hat dieses Lächeln Züge eines Orgasmus. Die Botschaft ist mir klar: Diese Heiligen sind jetzt nah bei Gott, was eben die höchste Lust ist. Hier werden Eros und Thanatos zu einer Symbiose vereint, die sich einer 'Entweder-Oder'-Kategorie entzieht - und irgendwie typisch südeuropäische Mentalität spiegelt.
[Lieber Pater, was ich mich schon lange frage: gibt es für diese 'Wachspuppen' eigentlich einen Fachbegriff in der Kunst? Ist das noch ein 'Gisant'?]

Ich hoffe, ich konnte auf den Punkt bringen, was mich umtreibt. Ich verbinde den Katholizismus mit einer ihm eingeschriebenen Sinnlichkit und Erotik, die sich wiederum der prüde Protestantismus erst erarbeiten musste. Doch heute scheint sich das Blatt um 180 Grad gewendet zu haben: Der Protestanismus tendiert zu einem gewissen 'Laissez-faire' und der Katholizismus vergisst zuweilen, dass er eigentlich die Konfession der sinnlichen Qualitäten ist: Von Weihrauch über Musik bis hin zur Erotik.

Viele liebe Grüße,
Matthias
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Christoph Kühn
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Christoph Kühn »

Lieber Johannes, lieber Matthias, lieb Gertrudis,

herzlichen Dank für Eure überaus inhaltsreichen und bedenkenswerten Beiträge.

Johannes, ich gebe Dir völlig recht, wenn es denn so wäre, dass António López in seinem Kunstwerk eine personale Gleichsetzung mit Gott vornehmen würde, um damit kundzutun: „Schaut alle her, der Gott Israels, das bin ich, und das manifestiere ich in Bronze am Hauptportal einer der größten Kathedralen des Landes.“ Dies wäre nichts anderes als Blasphemie. Aber das können wir mit Bestimmtheit ausschließen. Biblisch ließe sich argumentieren, hier geschehe ein Rückgriff auf Genesis 1, 27: Wenn Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, bedeute das im Umkehrschluss, dass der Mensch sich nach dem eigenen Antlitz ein Bild von Gott machen könne. Doch so weit möchte ich zunächst gar nicht gehen. Selbst Dürer hätte das als blasphemisch empfunden – Johann Konrad Eberlein hat 2003 in seiner Dürer-Monographie mit guten Argumenten der in der Kunstliteratur verbreiteten These einer Selbstdarstellung Dürers als Christus in seinem Münchner Porträtbild widersprochen.

Vielmehr glaube ich, dass es sich schlichtweg um eine Arbeitsmethode des Hyperrealismus handelt. Wir sollten uns von der Vorstellung trennen, dass hier überhaupt konkrete Personen als Gott, als Jesuskind und als Jungfrau Maria zu sehen sind, selbst wenn den Darstellungen Fotografien von bestimmten Personen zugrundeliegen. Die personale Gleichsetzung mit konkreten Personen, wenn es sie denn gegeben hat, ist durch den Schaffensprozess abhanden gekommen; die Bildvorlagen sind bloß Arbeitsmaterialien und nicht mehr als das.

Natürlich könnte man den Dargestellten auch eine Flüchtlings- und Solidaritätsthematik etwa in Rückgriff auf Matthäus 2, 13-15 und 25, 43-45 zugrunde legen, aber das braucht gar nicht zu sein, wenn sich der Künstler und seine Auftraggeber für andere neutestamentliche Bezüge entschieden haben. Bei der Darstellung des Jesuskindes auf dem rechten Portal drängt sich unweigerlich das Bild von Jesus als der Tür (Johannes 10, 9) auf, aber auch die Vorstellung des Kindes als Vorbild für ein gelungenes Leben (Matthäus 18, 2-3). Jedenfalls wird der Eintretende mit der Darstellung persönlich angesprochen und unmittelbar zur Christusnachfolge aufgerufen. Eine zusätzliche soziale Thematik würde das Programm überfrachten und so von der beabsichtigten Aussage letztendlich fortführen.

Freilich muss ich zugeben, dass ich die Darstellung von Maria auf dem linken Portal irritierend finde. Dort wird die Eingangstür innerhalb der Reliefdarstellung so angeordnet, dass der Besucher durch den unbefleckten Unterleib der Gottesmutter in die Kathedrale eintritt. Fraglos öffnet das weite Spielräume für eine Interpretation: Handelt es sich um eine unbedarfte Adaption des Mariendogmas, das Papst Pius IX. verkündet hat, ist es eine augenzwinkernde Stellungnahme zu diesem umstrittenen Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens, spielt womöglich feministische Theologie hinein oder ist das nur unfreiwillige Komik? Letzteres kann man wohl ausschließen, denn Künstler aund Auftraggeber haben sich sicherlich etwas dabei gedacht, aber dieses Beispiel zeigt, wie schnell Kunst ins lächerliche kippen kann, wenn sie nicht überzeugt. Mir ist die Deutung, dass hier mit den Augen gezwinkert wird, ganz sympathisch.

Die Gefahr des Kippens betrifft auch den Kopf von Gottvater auf dem Mittelportal – das erste Wort, dass mir dazu eingefallen ist, war „Nuschel“ in Anlehnung an den großen Karl-Marx-Kopf von Lew Kerbel in Chemnitz. Der Vorwurf der Blasphemie steht zweifelsohne im Raum und es liegt mir fern, hier irgendetwas zu „beschönigen“ oder zu „rechtfertigen“. Doch in meinen Augen liegt keine Blasphemie vor; gerade das bislang unerhörte, Gott nach eigener Vorlage darzustellen und hyperrealistisch ins Überdimensionale zu steigern, zeigt, wie mutig dieser Entwurf ist. António López eignet sich von seinem Aussehen übrigens sehr gut als Vorlage; ein Bild von mir wäre da wohl weitaus weniger überzeugend. Aber es geht gar nicht um López, sondern um ein Idealbild Gottes, das so nahe wie möglich an seine alttestamentlich begründete Nachbildung, dem Menschen, angenähert sein soll. Meiner Meinung nach kann durchaus der Mut aufgebracht werden, Gott auch mal mit Arbeitsweisen und Stilmitteln des Hyperrealismus darzustellen, und da sage ich frei nach Max Liebermann: „Der Kopf ist so schön jemacht, der kann ja jar nich jroß jenug sein.“

Die abstrakte Kunst wurde als mögliche Alternative angesprochen: Gerhard Richter hat mit seinem Domfenster in Köln eindrucksvoll gezeigt, dass Abstraktionen sehr gut mit gotischer Architektur zusammengehen und zur Meditiation anleiten können. Aber ich glaube nicht, dass in dem vorliegenden Fall abstrakte Kunst den „Eyecatcher“ bieten kann, den die Portalzone der Westfassade in Burgos benötigt. Der „Nuschel“ im Hauptportal kann das durchaus.

Eine Unterscheidung von „religiöser“ und „liturgischer“ Kunst habe ich bislang nicht getroffen, aber wenn es da einen Unterschied geben sollte, müsste doch das Unterscheidungsmerkmal sein, dass „liturgische“ Kunst die Perikopenordnung der liturgischen Lesungen bedient, während „religiöse“ Kunst dies nicht zu tun braucht. Hier sehe ich keinen Widerspruch zu dem Entwurf; für „liturgisch“ halte ich diese Kunst aufgrund ihrer biblischen Bezüge allemal.

Viele Grüße

Christoph
Zuletzt geändert von Christoph Kühn am 5. Mär 2021, 13:07, insgesamt 1-mal geändert.
"70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind in Europa wieder Städte von der Auslöschung bedroht."

Karl Schlögel, 2015
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Simsim
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Re: ENTWEIHUNG DER KATHEDRALE VON BURGOS?

Beitrag von Simsim »

wie man sowohl Gotteslob als auch Erotik zu einer Symbiose zusammenfügt
Das Hohelied der Liebe......fällt mir da nur zum Thema ein.
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