Andrzej Szczypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras. Roman. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Zürich: Diogenes 1991

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Christoph Kühn
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Andrzej Szczypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras. Roman. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Zürich: Diogenes 1991

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Andrzej Szczypiorski: Eine Messe für die Stadt Arras. Roman. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Zürich: Diogenes 1991, 198 S. (detebe 22414), ISBN 3-257-22414-1

Im Frühling des Jahres 1458 wird die Stadt Arras von der Pest heimgesucht. Bischof David von Thérouanne verhängt den vollständigen Lockdown: Die Stadttore werden verschlossen und jenseits der Mauern patrouillieren Wachen mit dem Befehl, auf jeden zu schießen, der den Ausbruch wagt. Dringend benötigte Proviantlieferungen werden von Räuberbanden abgefangen, so dass zu der Seuche eine Hungersnot hinzutritt. Innerhalb eines Monats findet ein Fünftel der Stadtbevölkerung den Tod. Dann verschwindet die Pest so plötzlich, wie sie gekommen ist; die Quarantäne wird aufgehoben.

Was hinterlässt ein solches Erlebnis bei den Menschen, die davon betroffen waren? Szczypiorskis Roman setzt mehr als drei Jahre später ein und schildert den Pestmonat ausschließlich in der Erinnerung des Überlebenden Jean: „Die Bürger waren ungemein aufgebracht. Sie spürten ihre Verlassenheit und ihr Unglück um so härter, als sie sich von den Menschen getäuscht sahen, denen sie so lange vertraut hatten.“ (S. 46) Im Herbst 1461 ist der innere Friede scheinbar nach Arras zurückgekehrt. Doch unter der Oberfläche gärt es. Ein geringfügiger Anlass – zunächst nur ein Gerücht – löst eine weitere Katastrophe aus. Fragwürdige Anschuldigungen und rabulistische Verhörmethoden fordern erste Opfer; ihr schlechtes Gewissen beruhigen die Bürger mit Schuldzuweisungen an die Judengemeinde. Als die Scharfmacher im Stadtrat die Oberhand gewinnen, bricht jene berüchtigte Vauderie d´Arras (Hetzjagd von Arras) los.

Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski schöpfte aus seinen Erlebnissen während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg. Er hatte am Warschauer Aufstand teilgenommen und war Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen. Seinen Roman veröffentlichte er 1971 als Parabel auf den Indifferentismus der katholischen Bevölkerung Polens gegenüber der Judenvernichtung. Erstmals habe ich das Buch 1992 nach dem ausländerfeindlichen Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gelesen und musste erkennen, dass die Handlung immer noch hochaktuell ist. Szczypiorski seziert millimetergenau eine Stadtgesellschaft und verfolgt gewissermaßen unter einem Mikroskop, wie sich der Hass auflädt. Gerade durch diese Präzision gerät die Romanhandlung zu einem beklemmenden Lehrstück.
"70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind in Europa wieder Städte von der Auslöschung bedroht."

Karl Schlögel, 2015
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