Bildungsschmöker "Wanderlust"

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chrisbee
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Bildungsschmöker "Wanderlust"

Beitrag von chrisbee »

Rebecca Solnit veröffentlichte ihr Buch „Wanderlust“ schon im Jahr 2000, aber erst Ende 2019 („Wanderlust“ heißt auch im Englischen „Wanderlust“) kam es auf deutsch heraus. Endlich! Es steckt unglaublich viel darin. Diese Kulturgeschichte des Gehens ist eine irre Fleißarbeit. Einerseits. Andrerseits ist diese Geschichte ungewöhnlich anregend geschrieben, nämlich nicht einfach nur chronologisch, sondern als Essays bzw. als eigene Reiseerzählungen, in die sie die Geschichte einbettet. Außerdem schafft sie Begeisterung, weil sie selbst begeistert ist, sie versteht das Gehen als die „ideale Übereinstimmung von Geist, Körper und Welt“. Mit jedem Kapitel glaubt man besser zu verstehen, dass es ein riesiges Glück ist, Gehen zu können - und zu dürfen.
Das Buch ist aus us-amerikanischer Perspektive geschrieben. Ein etwas für uns Europäer anderer Blickwinkel, weil Rebecca Solnit damit auch die unglaubliche Naturbegeisterung der Erfinder der Nationalparke und deren endlose Wanderungen in den Blick nimmt. In Europa, so schreibt sie, gab es das „goldene Zeitalter des Wanderns“ um 1800 herum. Es wurde geradezu Mode und es gehörte praktisch zur Ausbildung eine Dichters, „entbehrungsreich zu reisen und sich mit dem Gebirge vertraut zu machen“. Klar, da denkt man gleich an Rousseau, an Goethe, an Hölderlin. Diese Tradition reicht bis zum Filmemacher Werner Herzog. Rebecca Solnit nimmt alle (!) in den Blick.
Ihre amerikanische Sicht wird besonders beim Pilgern deutlich. Berührend fand ich ihre Definition, die Pilgern vom Wandern unterscheiden will: „Pilgern beruht auf der Idee, dass das Heilige nicht gänzlich immateriell ist, sondern dass eine Art Geografie der spirituellen Macht existiert.“ Neu war mir, dass sich in den USA auch eine recht unorthodoxe Pilgertradition herausgebildet hat, die u.a. mit der Bürgerrechtsbewegung (Martin Luther King) und den Friedensmärschen zu tun hat.
Sehr interessant fand ich das Kapitel „Frauen, Sex und öffentlicher Raum“. Ich habe noch nirgends sonst so anschaulich über die Einschränkungen gelesen, denen Frauen historisch unterlagen, wenn sie raus wollten. Dass Frauen „an den Herd gehören“, ist ja nicht bloß ein Spruch, den die älteren Frauen unter uns noch allzugut kennen – es war/ist praktisch selbstverständlich, eine gesellschaftliche Regel, die zu brechen immer sanktioniert wurde. Oft mit drakonischen Strafen, mindestens aber mit der Ansicht, dass eine Frau allein draußen eine Prostituierte sei, eine Frau auf Männerfang, also etwas Unanständiges, was man entsprechend zu behandeln habe.
Frauen sind auch, daran erinnert Solnit, das Hauptziel sexualisierter Gewalt (und nicht bloß in Kriegsgebieten). Sie scheibt: „Nachdem mir so oft nachgestellt wurde, lernte ich, wie die meisten Frauen, wie Beute zu denken, auch wenn heute Furcht viel weniger Raum in meinem täglichen Bewusstsein einnimmt als in meinen Zwanzigern.“ Dasselbe könnte ich für mich selbst sagen. Manchmal wie eine Beute denken zu müssen, hat mich früh wachsamer gemacht. Und ich muss sagen, dass ich mit dieser Wachsamkeit ziemlich weit herumgekommen und einigermaßen glimpflich davongekommen bin.
Auch hier, in diesem Forum, ging es auch schon um die Frage, wie es so ist, so als Frau allein auf dem Camino. Ein, wie ich finde, wichtiges Thema, über das man auch immer wieder sprechen sollte, weil die Realität mitunter sehr speziell ist.
Mich wundert übrigens der stetig gewachsene, statistische Anteil von Frauen auf dem Camino während der letzten Jahre ganz und gar nicht. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal über den Camino Frances nach Santiago ging und mit einer anderen Frau darüber sprach, erhielt ich als Antwort: „Ich traue ich mich nur deshalb allein hier hin, weil der Camino ein „geschützter“ Weg ist.“ Diese Antwort lasse ich mal so stehen.
Gruß chrisbee
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